3. Juni 2020

Der Verdingbub

Walter Hottiger: Der Verdingbub, Verlag
Emmentaler-Blatt, Langnau i.E., 1961
Dieses Buch wurde geschrieben, bevor das Verdingkinderproblem ein öffentliches Gesprächsthema war und die Zeitungsspalten füllte. Aber Walter Hottigers Erzählung, die bereits mehrfache Auflagen erlebte, ist eine der menschlichsten und wahrsten Darstellungen eines Verdingkinderschicksals geblieben, gestaltet aus innerster Vertrautheit mit dem Leben auf dem Lande. Obwohl der Verfasser das Traurige und Böse nirgends unterschlägt, ist daraus keine Anklageschrift geworden, sondern eine von blühendem Leben randvoll erfüllte Erzählung, in deren Mittelpunkt zwei Berghöfe und die Schicksale ihrer Bewohner stehen. Zwischen diesen beiden Polen, der Ruchegg, wo Emmen-Ueli als früh verwaistes Verdingkind aufwächst und von der Bäuerin, die ihn nicht mag, nie ein liebes Wort bekommt, und dem jenseits des Tälchens gegenüberliegenden hablichen Hofe «Sonnenwand» des Grossrates und Wirtes Hofer rollt eine Handlung ab, der es weder an spektakulären äusseren Höhepunkten, so einer Brandstiftung zwecks Versicherungsbetruges und einem Selbstmordversuch, noch an inneren Kämpfen der Hauptpersonen fehlt. Eine feine Liebesgeschichte durchzieht das äusserst dichte Gewebe der kunstvoll aufgebauten Frzählung.

Da ist nichts Süssliches, nichts von falscher Bauernromantik; diese Menschen stehen alle mit beiden Füssen auf Gottes Erdboden. Und von der Lösung der Verstrickungen her fällt schliesslich ein Licht zurück auf das ganze Geschehen. Denn es ist sichtlich das tiefere Anliegen des in der christlichen Ethik verwurzelten Verfassers, zu zeigen, dass jede Schuld auf Erden eine Sühne verlangt, dass es noch eine Weltordnung gibt, in der «eine höhere Hand im Spiele sein muss», wie Ueli es einmal «andächtig» ausspricht, als sei mit allen Wassern gewaschene alte Rucheggler, der nicht nur den Brand auf dem Gewissen hat, sondern auch den Tod seines alten Knechtes Menk, der als einziger um jene Tat wusste, an seinen Gewissensbissen zugrunde geht. Im Schicksal der wohlhabenden Tochter Rösi von der Sonnenwand, die nach Irrungen und Wirrungen den jungen Rucheggbauern zum Manne nimmt, ihn wieder verlässt, weil sie im Grunde keine Bäuerin ist, und den Mann dadurch zum versuchten Selbstmord treibt und die dann schliesslich ihre Aufgabe darin sieht, zum gesundheitlich schwer geschädigten Gatten zurückzukehren und ihm das Leben tragen zu helfen, kreuzt sich die aufsteigende Lebenslinie Emmen-Uelis mit einer wirkungsvollen Kontrasthandlung.

Gestalten wie das Bauernpaar auf der Ruchegg, die Grossmutter Hofer von der Sonnenwand, der Knecht Menk, dessen freudloses Leben so traurig endet, und manche zum Teil humorvoll gezeichnete Nebenfiguren wie der Hubel-Godi, vor allem aber die Hauptpersonen Ueli und Vreneli, prägen sich dem Leser tief ein. Vreneli mit ihrem untrüglichen Gefühl für Recht und Unrecht, ihrer Überzeugung, dass nur freiwillige Sühne die aus den Fugen geratene kleine Welt um die Ruchegg wieder in Ordnung bringen kann, wirkt wie eine wärmende Sonne, deren Licht über dieser Erzählung liegt. Mit ihr hat Walter Hottiger, selber bäuerlichen Stamm entwachsen, als eigenständiger Gestalter ein Werk geschaffen, das in seiner Grundhaltung irgendwie an Gotthelfs «Geld und Geist» erinnert.
(Klappentext)

BE: Emmental bei Burgdorf

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