18. September 2023

Die Familie der Beatrice

Arnaldo Alberti: Die Familie der Beatrice,
Benziger/Ex Libris, Zürich, 1986
Diese Geschichte einer Locarneser Familie vermittelt ein genaues Bild der Situation des Tessins nach dem radikalen gesellschaftlichen Wandel der letzten hundert Jahre. Die Tessiner haben ihr Land den «Kolonisatoren» aus dem Norden verkauft und damit den Zugang zu ihrer Vergangenheit, ihren Wurzeln, verloren. Ein kulturelles Vakuum ist entstanden. In Politik und Wirtschaft herrscht Korruption. Beatrice und ihre Geschwister finden in ihrem Leben verschiedene Antworten auf diese Situation: Trivina, Beatrices Schwester, verkauft sich in Zürich als Prostituierte den «Herren im Norden» und kehrt als unabhängige, erfolgreiche Geschäftsfrau zurück. Beatrice gibt sich selber auf und wird drogenabhängig. Ihr Bruder hingegen versucht, auf einem abgelegenen Bauernhof im Malcantone Lebensformen zu verwirklichen, die an archaische, bäuerliche Traditionen anknüpfen.

Die Chronik der Familie wird mit historischen Ereignissen aus dem 19. Jahrhundert konfrontiert, dem Aufstand der Liberalen in Locarno und der Ermordung des liberalen Politikers Francesco Gegiorgi. Eine überzeugende Auseinandersetzung mit dem Mythos Tessin. (Klappentext)

13. September 2023

Alpsummer

Walter Eschler: Alpsummer, Zytglogge,
Gümligen, 1983
Walter Eschler hat sich eine glückliche Synthese erarbeitet. Seine Sprache vermittelt viel von der mundartlichen Eigenart, und ist doch überraschend leicht lesbar. Eschler beherrscht aber nicht nur die Register der Sprache, sondern auch jene der menschlichen Seele, er verfügt über einen urwüchsigen Humor wie über empfindsames Einfühlen in Menschen und Gemeinschaft. Dies sind die Mittel, mit denen der Autor eine echte, innere Spannung hervorbringt und zur Teilnahme zwingt, selbst bei Gestalten, die am Rande der Gesellschaft stehen, am Rande im geographischen Sinn wie nach ihrer Wesensart. Darum darf man das Buch unbedenklich als grosse Bereicherung unserer Mundartliteratur willkommen heissen.
Erwin Heimann

Die Erzählungen sind echtestes Simmental nach Örtlichkeit, Personen, Begebenheiten, ganz besonders nach der Sprachgebung. Wie vor ihm Albert Streich in Brienz und die Frutigtalerin Maria Lauber, bemüht sich Walter Eschler, der sprachlichen Wirklichkeit auch in der Druckform so nahe als möglich zu kommen. Eine knappe Einführung in die Schreibproblematik ist besonders für den Nichtoberländer eine wertvolle Hilfe; dasselbe gilt vom Wörterverziichnis am Schluss. Wie farbig und wie lebensvoll Eschlers Palette ist, deuten schon die Titel an («der uhiimlich Fund»; «ds Lugi-Trittli»; «di alti Petrollampe»; «Chirschmues»; «ds Schattmatte Köbi» usw.). Manche Überschrift scheint schon etwas von der zu erwartenden Spasshaftigkeit, von Humor und Witz zu verraten. Man unterhält sich denn auch köstlich. Hans Sommer

3. September 2023

Aues für d Chatz

Margrit Staub-Hadorn: Aues für d Chatz,
Cosmos, Muri b. Bern, 1995
Seit drei Jahren gehört die frühere Fernsehmitarbeiterin und heutige Radiofrau Margrit Staub-Hadorn zum Team jener Autorinnen und Autoren, die sich bei Radio DRS in die Rubrik «Zum neuen Tag» teilen. Drei bis vier Mal im Jahr meldet sie sich jeweils eine Woche lang zu Wort: um fünf nach sechs, um zwanzig vor sieben, um zehn vor acht. Thematisch sind ihr keine Auflagen gemacht. Sie kann philosophieren, Geschichten erzählen, Erinnerungen beschwören, von Begegnungen berichten, Redewendungen beim Wort nehmen, Gedanken entwickeln. Sie kann sagen, was sie will. Nur kurz muss es sein, zweieinhalb Minuten, nicht mehr. Das zwingt zu Konzentration und Verknappung. Margrit Staub kann das.

Sie hat Sinn für das Kleine, das Unscheinbare und gleichwohl Bedenkenswerte. Sie packt ihre Hörerinnen und Hörer, indem sie sie direkt anspricht. Die Aufmerksamkeit ist ihr sicher, weil das, was sie sagt, in ihrer eigenen Erfahrung verwurzelt ist. Margrit Staub bürgt für ihre Gedanken, auch wenn es, wie in diesem Band, bisweilen nur «Fötzeli» sind. Sie sind so echt wie das Berndeutsch, in dem sie daherkommen: einer Sprache, so eigensinnig und unverwechselbar wie die Frau, die sie spricht.

Das meint der Titel, den sie für die Auswahl ihrer «Gedanken zum neuen Tag» und der dazwischen gestreuten «Gedankefötzeli» gewählt hat: «Für d Chatz isch au es für d Chatz.» Die Katze bezieht alles, was in ihrer Umgebung geschieht, auf sich und tut alles, was sie tut, nur für sich. Das sollte der Mensch ab und zu auch versuchen, meint Margrit Staub und wünscht uns Tage, «wo mer o öpper si, wiu aues, wo mer mache, nume für d Fröid isch. Für üs. Für d Chatz.» Klara Obermüller im Vorwort