29. Dezember 2021

Das Wanderrad von Langenthal

Die Idee kam mir neulich auf meiner Spiralwanderung rund um Bern: Acht mehr oder weniger gleich lange Wanderungen von einem zentralen Punkt aus. Die Wanderrouten richten sich nach der Windrose von N, NO, O, SO, S, SW, W bis NW. Also quasi das Gegenteil einer Sternwanderung, bei der in der Regel von verschiedenen Punkten an einen zentralen Ort gegangen wird. Sofort war für mich auch klar, dass ich nicht von einer Sternwanderung sondern von einer Strahlenwanderung sprechen würde.

Wieder daheim, machte ich mich umgehend an die Planung. Von entscheidender Bedeutung war der zentrale Punkt. Dieser musste zwangsläufig im Mittelland liegen, wollte ich mich doch nicht mit unwegsamem und steilem Gelände befassen. Und auch stehende oder fliessende Gewässer sollten das Unternehmen nicht zu stark einschränken. Diese minimalen Anforderungen brachten mich bald einmal zur Lösung: Langenthal sollte den Ausgangspunkt darstellen. Die von hier ausgehenden, in die genannten Windrichtungen führenden Luftlinien bemass ich mit 10 km Länge. Am Ziel sollte selbstverständlich eine Anbindung an den öffentlichen Verkehr bestehen.

Die exakte Festlegung der acht Routen erfolgte dann mit Hilfe der digitalen Landeskarte SwissMap 25. Die Strecken sollten möglichst nahe der Luftlinie verlaufen. Mit wenigen Ausnahmen liessen sich eine Bahn- oder Bushaltestelle am Ende der jeweiligen Strecke finden. Wo dies nicht der Fall war, verkürzte oder verlängerte sich das Ganze. Am Ende hatte ich folgende Etappen elaboriert:

  1. Langenthal – Oberbuchsiten • 15,7 km
  2. Langenthal – Gländ • 14,5 km
  3. Langenthal – Richenthal • 16,8 km
  4. Langenthal – Gondiswil • 15,3 km
  5. Langenthal – Walterswil • 15,2 km
  6. Langenthal – Hermiswil • 12,6 km
  7. Langenthal – Wangenried • 11,9 km
  8. Langenthal – Niederbipp • 12,0 km

Dies ergab auf der Karte folgendes Bild:


Da fehlt noch etwas, dachte ich, als ich mir diese «Strahlen» zum ersten Mal im Gesamtüberblick besah. Und was lag näher, als die Enden noch miteinander zu verbinden, so dass aus den Strahlen Speichen und dem Ganzen schliesslich ein Rad wurde. – Also habe ich noch einmal acht Etappen geplant:

  1. Oberbuchsiten – Niederbipp • 11,2 km
  2. Niederbipp – Wangenried • 12,6 km
  3. Wangenried – Hermiswil • 12,9 km
  4. Hermiswil – Walterswil • 14,4 km
  5. Walterswil – Gondiswil • 12,0 km
  6. Gondiswil – Richenthal • 14,6 km
  7. Richenthal – Gländ • 13,8 km
  8. Gländ – Oberbuchsiten • 13,2 km

Und somit war das «Wanderrad von Langenthal» geboren!



Aus wandertechnischer Sicht fällt auf, dass alle 16 Wanderungen mehr oder weniger gleich lang sind. Zeitliche Unterschiede ergeben sich durch die unterschiedliche Topografie. In geografischer Hinsicht werden mit die Touren in die Kantone Bern, Aargau, Luzern und Solothurn führen. Hierbei durchstreife ich nicht nur die Ausläufer des Emmentals sondern auch das Mittelland und selbst ein kleines Stück Jura. Anhand der beiden Etappengruppen (Speichen und Felge) ist ersichtlich, dass sich die Reihenfolge der Speichenwanderungen (total 114 km) nach dem Uhrzeigersinn und die Felgenwanderung (total 114,7 km) gegen den Uhrzeigersinn richtet.

An einem düsteren 27. Dezember 2021 machte ich mich nun zum ersten Mal auf den Weg und ging von Langenthal nach Oberbuchsiten. Über meine optischen Eindrücke berichtet eine ausführliche Bildstrecke mit viel Schmunzel- und Kopfschüttelpotenzial.

17. Dezember 2021

Bestseller

Isabelle Flükiger: Bestseller, Rotpunkt,
Zürich, 2013
Die Ich-Erzählerin träumt davon, einen Bestseller zu schreiben, muss fürs Erste aber noch einem Job im Kulturbetrieb nachgehen. Während ihr Freund als angehender Lehrer gerade in seinem Idealismus von der harten Realität ausgebremst wird. Zusammen warten sie darauf, dass das richtige Leben beginnt – und ahnen doch, dass sie sich anpassen und fortpflanzen werden, wie alle anderen auch.

Bis Gabriel vom Himmel fällt, sprich ein reizender kleiner Hund eines Morgens in ihrem Garten sitzt. Mit seiner schier ansteckenden Lebensfreude stellt er nicht nur ihr mittelmässiges Leben infrage, sondern scheint fortan auch ihr Schicksal zu beeinflussen. Jedenfalls überstürzen sich die Ereignisse, und was mit grossen treuen Hundeaugen begann, läuft auf eine erste veritable Lebenskrise hinaus, die dem jungen Paar nicht nur ganz neue Perspektiven beschert – sondern auch ihr eigenes Leben zum Bestseller macht.

Isabelle Flükiger erweist sich in ihrem ironisch-verzweifelten Roman als Seismografin unserer Zeit. In ihrer hinreissend komischen Sprache beschreibt sie die Lebenswelt der Dreissigjährigen, die sich nichts erkämpfen mussten. Dort herrscht Panik vor dem langweiligen Dasein in einem Land, in dem nichts passiert. Aber wenn die seichte Ruhe erst einmal gestört ist, tritt deren ungeheures Potenzial zutage. (Klappentext)

13. Dezember 2021

Das Mädchen, das gehen wollte

Barbara Schaefer: Das Mädchen, das gehen
wollte, Diana Verlag, München, 2009
Als Barbara Schaefer erfährt, dass ihre Freundin Katja am Hohen Dachstein tödlich verunglückt ist, packt sie das Nötigste in einen Rucksack und verlässt Berlin in Richtung Süden. Sie geht in zwei Etappen insgesamt fast sechs Wochen, geht rund 25 Kilometer am Tag und kommt so über Dresden und Theresienstadt nach Prag und schliesslich durch Böhmen und den Bayerischen Wald in die Berge. Schon immer konnte Barbara Schaefer durch das Gehen Energie tanken, jetzt hilft es ihr, der Trauer nachzuspüren und Abschied zu nehmen.

Eine Reise, auf der die Autorin zurück ins Leben findet. Sechs Wochen im Leben einer Frau, die um einen geliebten Menschen trauert und dafür 900 Kilometer von Berlin nach Österreich geht. (Klappentext)

Moors Fazit: Ein wunderbar geschriebenes Buch über eine Fernwanderung durch drei Länder, über eine Frauenfreundschaft und nicht zuletzt über das Leben selbst.

11. Dezember 2021

Im Stillen klagte ich die Welt an

Dora Stettler: Im Stillen klagte ich die
Welt an, Limmat, Zürich, 2009
Im Sommer 1934 werden zwei Mädchen aus der Stadt Bern auf einen abgelegenen Bauernhof in Pflege gegeben. Auf dem Hof herrscht ein harsches Regiment, die beiden werden als Gratismägde ausgenutzt und wegen Kleinigkeiten verprügelt, der Bauer stellt ihnen nach.

Dann kommen die Missstände aus, die Kinder werden umplatziert. Aber wieder verrichten sie harte Arbeit, wieder werden sie geschlagen. Als der Alptraum nach vier Jahren ein Ende hat, sind die Elf- und Zwölfjährige für ihr Leben geprägt: vom Gefühl, nichts wert zu sein. (Klappentext)

Moors Fazit: Erschütternd, traurig und alles andere als die heile Schweiz darstellend. Nach der Lektüre erscheint mir das in den vergangenen Monaten zelebrierte öffentliche Gejammere und Getrychle gewisser Kreise als vergleichsweise lächerlicher Aktionismus spätpubertierender Möchtegernrevoluzger.

9. Dezember 2021

Banken, Blut und Berge

Peter Zeindler: Banken, Blut und Berge,
Rowohlt, Reinbek bei Hamburg, 1995
Der Schweizer Nationalrat Jean Ziegler gilt seit seinem Sachbuchbestseller «Die Schweiz wäscht weisser) als Nestbeschmutzer. Die saubere Schweiz als «Finanzdrehscheibe des internationalen Verbrechens» zu bezeichnen, bleibt auch in der helvetischen Gesellschaft nicht ohne Folgen. So sublimiert der Zürcher Peter Zeindler in seiner Anthologie das Image vom AIpenland der «Banken und Banditen»: «Nein, nichts von all dem. Keine Klischees! Das zeichnet den Schweizer Krimi aus. Seine Geschichten wachsen aus düsteren Zimmern mit tiefhängenden Decken, nisten im Ehebett unter gemütlich rot-weiss-kariertem Federbett, steigen wie Dampf aus den Suppentellern auf blankgescheuerten Tischen in der guten Stube und in Wirtshäusern, motten in Aktenschränken von Amtsräumen.» Denn diese eidgenössischen Autoren loten nicht die Abgründe des Bankgeheimnisses, sondern die Untiefen seelischer Deformationen aus.

Neben einer Geschichte von Friedrich Glauser vereinigt diese Anthologie Erzählungen von Roger Graf, Paul Lascaux, Jürg Acklin, Ulrich Knellwolf, Felix Mettler, Peter Höner, Christa Weber, Werner Schmidli, Milena Moser, Verena Wyss, Marcus P. Nester, Cristina Achermann, Peter Zeindler und Jürg Weibel. (Inhaltsangabe zum Buch)

7. Dezember 2021

Die Spirale – Etappe 9

Die Route der 9. Etappe der Wanderspirale.
18,3 Kilometer lang war sie, diese von etwas Sonne und mehrheitlichem Nassschneefall geprägte Etappe von Bern-Brünnen Westside nach Münchenbuchsee. Und einmal mehr entpuppte sich eine vermeinlich unspektakuläre Wanderung als äusserst zufriedenstellendes, geistiges und körperliches Unterfangen.

Es begann um 8.10 Uhr mit der dadaistischen Düsterstimmung auf dem menschenleeren, mit mickrig wirkenden Designersitzen ausgestatteten Vorplatz des vorweihnächtlich beleuchteten Konsumtempels «Westside». Auf der Westseite von «Westside» wurde die Szenerie noch skurriler: Die Autobahn, die vom Gebäudekoloss verschluckt wurde, daneben quellte aus der Fassade ein dickdarmartiges Röhrengebilde in provozierendem Rot hervor. Der weit und breit einzige Farbtupfer in einer von Menschenhand brutal umgekrempelten Landschaft.

Das Grauen dauerte indes nicht lange. Über eine Hügelkuppe gelangte ich auf den Wohleiberg. Rechterhand ragten die Antennenmasten der 2016 stillgelegten Sendeanlage der einst einzigen Küstenfunkstelle eines Binnenstaates in den Himmel. Auf leicht vereistem Strässchen schritt ich vorsichtig-gemütlich hinab zum Wohlensee, wo urplötzlich die Sonne durch die Wolken schien. Ich frohlockte. Allerdings nur bis etwas oberhalb von Oberwohlen, also eine gute halbe Stunde. Vom inzwischen bleiern gewordenen Himmel fielen die ersten Schneeflocken.

In einem Waldstück setzte ich meinen Regenhut auf, trank einen Schluck und stopfte mir ein paar Datteln in den Mund. Das Schneetreiben wurde dichter. Glücklicherweise blieb es auf der gesamten Etappe windstill, was mir, der perfekten Winterbekleidung sei es gedankt, ein wohliges Voranschreiten ermöglichte. Die Gemütlichkeit erlitt indes einen zeitweiligen Dämpfer, als vor mir ein grösseres Waldstück auftauchte, wo eigentlich kein Waldstück hätte auftauchen sollen. Kurz: Ich hatte in Schüpfenried einen falschen Weg eingeschlagen und ging statt nach Osten Richtung Norden. Der Fehler entpuppte sich jedoch als wenig gravierend. Die «falsche» Route war problemlos zu korrigieren und zudem gänzlich mit einem Naturbelag versehen, was an diesem Tag eher die Ausnahme darstellen sollte.

Im Weiler Weissenstein war ich dann wieder auf Kurs und pflügte mich durch hügeliges Gelände weiter durch den fallenden Nassschnee. Beim Hof Husmatte landete ich mitten in einem Weihnachtsbaumverkauf. Ein etwa sechs Meter hoher, aufgeblasener Samichlaus machte die vorbeifahrenden Fahrzeuge auf den Anlass aufmerksam. Wer kauft denn jetzt schon ein «Bäumli», fragte ich mich. Zum Glück nicht mein Problem, sind wir doch zu Hause seit Jahren mit einem künstlichen Baum zufrieden.

Vom nahen Jetzikofen stieg ich den sanft geneigten Hügel hoch. Oben angekommen verschwand ich für längere Zeit in einen Wald. Auf einer grösseren Waldlichtung gelangte ich am Hof Kohlholz vorbei. Dieser hiess vor ein paar Jahren noch Herrencholholz. Natürlich würde mich interessieren, was es mit dieser Verkürzung auf sich hat, und ob nun auch Flurbezeichnungen gendermässig einer Korrekur – oder, wie im vorliegenden Fall, einer Zensur – unterzogen werden.

Als ich oberhalb von Diemerswil aus dem Wald trat, liess der Schneefall nach und machte innerhalb von zehn Minuten ein paar Sonnenstrahlen Platz. Ich blickte hinab nach Münchenbuchsee und war erstaunt, wie schnell ich die Strecke von Berns Westen in Berns Norden zurückgelegt hatte. Spannend dann auch der Wechsel vom äusserst ländlichen Weiler Diemerswil – Diemerswil bildet mit 203 Einwohnern nach wie vor eine eigene politische Gemeinde, derzeit sind Fusionsverhandlungen mit der Gemeinde Münchenbuchsee im Gange – in das dicht bevölkerte Münchenbuchsee. Dabei beträgt die Distanz zwischen den beiden Siedlungen lediglich 500 Meter. 

Die letzte Viertelstunde ging ich also durch dieses Münchenbuchsee, gelangte am Geburtsort des Malers Paul Klee vorbei, bestaunte die etwas überdimensioniert wirkende Kirche und machte am Ziel eine Foto des im Laubsägelistil gebauten, aber längst nicht mehr mit Bahnpersonal besetzten Bahnhofgebäudes, ehe ich mich – vorfreudig auf die nächste Etappe – mit der Bahn nach Hause chauffieren liess, wo ich mich genüsslich über die geschossenen Fotos hermachte.

Die Wanderspirale von Bern: In Grün die absolvierte und in Rot die geplante Route.



5. Dezember 2021

400 Kilometer Heimat

Charly Wehrle: 400 Kilometer Heimat, Panico,
Köngen, 2018
In 12 Tagen ist Charly Wehrle um seine oberschwäbische Heimat gewandert und hat dabei seine Erlebnisse, Eindrücke und Gedanken aufgeschrieben. Mit spannenden Einschüben zu Wissenswertem und Unterhaltsamem rund um Oberschwaben hat er die einzelnen Wegabschnitte untermalt. Eine eigenwillige Wanderung zum Lesen, Nachmachen und selber Erleben. (Klappentext)

3. Dezember 2021

Wallanders erster Fall

Henning Mankell: Wallanders erster Fall,
dtv, München, 2004
Als Kurt Wallander seinen ersten Fall löst, ist er Anfang Zwanzig, ein junger Polizeianwärter und bis über beide Ohren in Mona verliebt. In einer Zeit, da die Polizei mit Schlagstöcken gegen Demonstranten vorgeht, wird seine Berufswahl nicht nur von seinem Vater kritisiert. Eines Abends findet er seinen Nachbarn Hålén erschossen auf dem Küchenboden. Die Kriminalpolizei tippt auf Selbstmord, doch Wallander zweifelt an dieser Erklärung, umso mehr, als Håléns Wohnung in Flammen aufgeht und man wenig später auf eine weitere Leiche stösst. Am Ende dieser Ermittlung hat Wallander eine Menge Fehler gemacht und leichtsinnig sein leben riskiert, doch sein ausserordentliches kriminalistisches Talent gilt als erwiesen. – Von Wallanders erstem Fall bis zu einem ausgewachsenen Kriminalroman, «Die Pyramide», reicht das Spekrum dieser Geschichten, die alle vor dem 8. Januar 1990, dem Beginn der Wallander-Romane, spielen. (Klappentext)

Moors Fazit: Henning Mankell hätte auch das Telefonbuch von Stockholm in Prosa verfassen können, seine Leserinnen und Leser hätten Seite um Seite gierig verschlungen.

29. November 2021

Die Kellerkinder von Nivagl

Sie stehen schon seit einigen Jahren in meinem Bücherregal: «Die Kellerkinder von Nivagl». Neulich machte ich mich an die Lektüre und wollte natürlich gleich wissen, wo denn dieses Nivagl liegt. Als ich es auf der Karte lokalisierte, stockte mir kurz der Atem. An Nivagl kam ich am 27. Juli 2018, anlässlich einer Wanderung von Alvaschein nach Thusis, vorbei und hatte sogar eine Foto gemacht, auf der das Haus abgebildet ist, in dem die Autorin Jeannette Nussbaumer aufgewachsen war. Schade, habe ich das Buch nicht früher gelesen, denn dann hätte ich mir die Örtlichkeit bewusster und genauer angeschaut. So oder so: Weil ich den Gang von Alvaschein nach Thusis noch heute in sehr guter Erinnerung habe, wurde die Lektüre der «Kellerkinder» zu einem besonderen Erlebnis. Aber auch für Menschen, die die Umgebung zwischen der Lenzerheide und Tiefencastel nicht kennen, ist das Lesen dieser Lebensgeschichte ein beeindruckende Angelegenheit.

Die Häusergruppe Nivagl bei Zorten. Jeannette Nussbaumer ist im Haus links im Erdgeschoss aufgewachsen.


Während die Schweiz nach dem Zweiten Weltkrieg den Wirtschaftsboom Europas mitmacht und sich endgültig den Wohlstand sichert, lebt in einem Weiler Graubündens eine Familie mit neun Kindern (zwei weitere sterben kurz nach der Geburt) in einem feucht-kalten Kellergeschoss in bitterster Armut. Keines der Kinder hat ein eigenes Bett, die jüngeren tragen Kleider und Schuhe der älteren nach, die Kost bleibt einseitig und ungenügend, jedes Extra an Süssigkeiten und Spielzeug wird zum gemeinsamen Fest oder zum hart umkämpften Zankapfel, und ein Spitalaufenthalt bedeutet Luxusferien.

Jeannette Nussbaumer: Die Kellerkinder von
Nivagl, Friedrich Reinhardt, Basel, 1995
«Schuld» an dieser Misere ist der überforderte, von Jenischen abstammende Vater, den es in keiner regelmässigen Arbeit hält und der ausserdem das wenige Geld vertrinkt. Einzig der «Neni» als Erbauer und Mitbewohner des Hauses hält alles einigermassen zusammen, obwohl er noch wörtlich ein Fahrender ist, der sein Geschirr in den umliegenden Dörfern verkauft. Ihm hat sich besonders die Viertälteste angeschlossen, ein aufgewecktes Mädchen, das durch Schule und frühe Haushaltjobs seinen Weg macht und in diesem Buch mit spontaner Frische das Schicksal der ungewöhnlichen Familie erzählt.

Ihr Bericht gibt uns das Bild einer «anderen» Schweiz, aber nicht als soziale Anklage, sondern als menschliches Zeugnis. Und als stumme Aufforderung, unseren Konsumbedarf zu überdenken und den von materiellem Beiwerk verstellten Blick für die wirklichen Werte des Lebens zu schärfen.

27. November 2021

Hinter Gittern

Marlise Pfander: Hinter Gittern, Wörterseh,
Gockhausen, 2014
Arbeiterkind, kaufmännische Angestellte, Ehefrau, Mutter und mit 54 Jahren Quereinsteigerin in ein ganz anderes Metier und somit späte Karrierefrau: Marlise Pfander, 1950 in Bern geboren, amtete bis zu ihrer Pensionierung 2013 neun Jahre lang als Direktorin des Regionalgefängnisses Bern (RGB). Damit drang sie gleich doppelt in eine Männerdomäne ein: Zum einen beäugten die übrigen Gefängnisleiter der Schweiz die Ankunft einer weiblichen Kollegin mehr als kritisch. Zum anderen galt das RGB, in das auch ein Ausschaffungsgefängnis integriert ist, als schwieriger «Männerknast». Die harten Bedingungen in der Untersuchungshaft (das RGB ist kein Vollzugs-, sondern ein Untersuchungsgefängnis) konfrontierten Marlise Pfander mit menschlichen und organisatorischen Problemen, die jahrzehntelang als unlösbar galten. Mit viel Herz und grossem Verstand krempelte sie, die bald schon «s Chischte-Mami» genannt wurde, den als «Pulverfass» bezeichneten Betrieb um. Sie entwickelte neue Strategien, schuf damit bessere Arbeitsbedingungen für ihre Mitarbeitenden und optimierte den Alltag der Inhaftierten, die der ungewöhnlichen Chefin bald Vertrauen und Respekt entgegenbrachten. (Klappentext)

Moors Fazit: Äusserst lesenswertes und von Franziska K. Müller wunderbar verfasstes Buch.

22. November 2021

Betsy Berg

Christine Kopp: Betsy Berg, Eigenverlag, 2012
Nach dem 2009 erschienenen Buch «Schlüsselstellen» liegt nun ein neuer Band mit Kurzgeschichten aus den Bergen von Christine Kopp vor. Frech und frisch erzählen sie, wie Betsy Bern zu den Bergen kommt, was sie dort und unten im Tal erlebt und mit welchen Fragen sie sich auseinandersetzt.

«In den Bergen sucht Betsy Ablenkung und erlebt Freude und Ängste. Dort findet sie Gleichgesinnte, ja auch die Liebe. Sie stolpert, scheitert, steht auf und geht weiter. Schritt für Schritt. Ganz nach dem Zitat von Ingmar Bergman: ‹Älter werden ist wie auf einen Berg steigen: Je höher man kommt, desto mehr Kräfte verbraucht man, aber desto weiter sieht man›». (Klappentext)

19. November 2021

Die Broschüren

Sie liegen in Kirchen, in Museen oder in Tourismusinformationen auf: Broschüren zu lokalen Themen, zur Geschichte, zu Gebäuden, zu Ortschaften, Talschaften, Eisenbahnstrecken usw. usf. Ich liebe sie, diese handlichen und leicht in den Rucksack zu packenden Imprimate mit Inhalten, die oft nirgendwo im Internet zu finden sind. Hier eine Auswahl von Gelesenem.

Markus F. Rubli: Schloss Löwenberg, Edition
SBB, Bern, 1983
Diverse Autoren: Eriz – zwischen Emmental und
Oberland, Fischer, Münsingen, 1981

Diverse Autoren: Burgistein, Gemeinde
Burgistein, Burgistein, 1991

Diverse Autoren: Die Öle in Münsingen,
Verein Freunde der Öle, Münsingen, 1995
Fridtjof Nansen: Mein Glaube, Hans Pfeiffer,
Hannover, 1970


 

 

Caroline Calame, Orlando Orlandini: Die unterirdischen
Mühlen des Col-des-Rochers, Fondation des Moulins
souterrains du Col-des-Rochers, undatiert


Tobias + Hans Tomamichel: Bosco/Gurin, das
Walserdorf im Tessin, Gesellschaft Walserhaus, Gurin

 

Werner Neuhaus: Aus der Geschichte der Gürbetalbahn, Selbstverlag, Belp, 1990

 

Heinz Baumann, Stefan Fryberg: Der
Sustenpass, Raststättegesellschaft N2 Uri AG
1996
Karl Ludwig Schmalz: Der berühmte Block
auf dem Luegiboden, 1986

Walter Zeitler: Die Bayerische Waldbahn,
Neue Presse, Passau, 1991


17. November 2021

Hundeherz

Kerstin Ekman: Hundeherz, Piper,
München, 2009
Die Luft ist schneidend, und die Fjällgipfel hüllen sich in Grau. In der einsamen Stille des nordschwedischen Winters verirrt sich ein junger Welpe und ist ohne seine Mutter und seine Menschen hilflos der Natur ausgeliefert. In seinem unterkühlten Körper flattert sein Herz gegen die Kälte und die Nässe wie ein Vogelflügel. Glück und Zufall verhindern, dass er schon in den ersten Tagen verhungert. Bald lernt er Gefahren besser einzuschätzen. Sein Jagdinstinkt erwacht, und es gelingt ihm, den Frühling und den Sommer zu überstehen. Bis er zu Beginn des nächsten Winters einem Menschen begegnet. Ist es vielleicht sein Mensch? «Hundeherz» ist eine mitreissende kurze Geschichte über die Natur, die Einsamkeit und das Leben. (Klappentext)

15. November 2021

Katzenbach

Isabel Morf: Katzenbach, Gmeiner,
Messkirch, 2012
Valerie Guts Hund fischt eine Babyleiche aus dem Katzenbach in Zürich. Es ist Luzia Attinger, die unter dem Ambras-Syndrom litt, ihr ganzer Körper ist von dunklen Haaren bedeckt. Das Kind ist aus dem Kinderwagen, der im Garten der Familie stand, verschwunden. Beat Streiff und Zita Elmer ermitteln. Hat die Mutter das Kind in den Bach geworfen, weil es den Anblick der Kleinen nicht mehr ertragen konnte? Als noch ein zweijähriger Junge verschwindet, geraten die Kommissare an ihre Grenzen. (Klappentext)

GR: Sils-Maria, Silsersee SG: Buchs, Stadt St. Gallen SZ: Einsiedeln ZH: Zürich-Seebach (Hauptschauplatz), Katzenbach, Stadt Zürich A: Innsbruck

6. November 2021

Mit Volldampf nach Festiniog

Hansrudolf Schwabe: Mit Volldampf nach
Festiniog, Pharos, Basel, 1978
Die Festiniog-Bahn (Festiniog Railway, Rheilfford Ffestiniog) in Nord-Wales, eine der ältesten Schmalspurbahnen der Welt, führt vom Meerhafen Porthmadog 20 km weit nach Tan-y-Grisiau ins Waliser Schieferminengebiet hinauf. Der Ausbau der ursprünglichen Strecke nach Blaneau Ffestiniog ist in Arbeit. Die Bahn mit der Spurweite von 1 Fuss 11½ Zoll (rund 60 cm) wurde 1832 gegründet, 1836 eröffnet und seit 1863 mit Dampflokomotiven befahren. Seit 1954 ist der Wiederaufbau durch jugendliche Freiwillige im Gang. Unser Buch beschreibt ihn in der Geschichte des Heizers und Lokführers Tom und seiner Kollegen. Ist es ein Jugendbuch oder ein Eisenbahnbuch? Wir möchten sagen: beides! Es ist allen jungen und junggebliebenen Eisenbahnfreunden gewidmet.

Hansrudolf Schwabe, der Verfasser dieses Buches, ist von Beruf Verleger, Buchhändler und Druckereibesitzer in Basel. Daneben ist er begeisterter Eisenbahnfreund und hat schon mehrere Bücher über seine Vorliebe geschrieben. 1942: Die Sissach–Gelterkinden-Bahn. 1948: Der Staatsbetrieb der Schweizer Eisenbahnen. 1954: Die Entwicklung der schweizerischen Rheinschifffahrt. 1954: Die Basler Rheinhäfen. 1974: Schweizer Bahnen damals – neue Folge. 1978: Lokomotivmodelle unter Dampf. Die Festiniog-Bahn hat ihn vor allem wegen des grossen Aufbauwerkes durch junge Volontäre fasziniert. (Klappentext)

Moors Fazit: Ich habe das Buch zu Beginn der 1980er-Jahre gelesen und war von dieser Bahn so begeistert, dass ich 1987, anlässlich einer viermonatigen Fahrradtour von der Schweiz nach Irland und zurück, in Porthmadoc Halt machte und die Strecke nach Blaneau Ffestiniog mit dem romantischen Züglein befuhr.

2. November 2021

Auf Wanderschaft mit Herrn Hirzel

Soeben von der Druckerei angeliefert worden: «Wanderungen in weniger besuchte Alpengegenden der Schweiz und ihrer Umgebungen». Alleine die ungewohnte Länge des Titels und die heute kaum mehr verwendete Pluralform von Umgebung verraten, dass es sich hier um ein älteres Werk handeln muss. In der Tat!

Im Jahr 1822 unternimmt Hans Caspar Hirzel mit einem Weggefährten eine Wanderung von Zürich zum Monte-Rosa-Massiv, dessen Umrundung sie sich zum Ziel gesetzt haben. Im Folgejahr zieht es den naturwissenschaftlich interessierten Hirzel in die Glarner und Schwyzer Alpen, wo er mehrere Gipfel besteigt. Was der Schwiegersohn des grossen Hans Conrad Escher von der Lindt zu berichten weiss, stellt in den heutigen Tagen von Gletscherschwund und alpinem Massentourismus ein wertvolles Zeitdokument dar.

Die zwei lesenswerten Berichte habe ich sprachlich behutsam überarbeitet, mit einem Vorwort und ein paar Ergänzungen versehen. Bestellt werden kann das Büchelchen in meinem kleinen Verlag, der Edition Wanderwerk.

17. Oktober 2021

Jakobs Wanderungen

Jeremias Gotthelf: Jakobs Wanderungen,
Ex Libris, Zürich, 1982
Gotthelfs Roman Jakobs Wanderungen erschien 1846/47 in zwei Teilen und dem Titel «Jacobs, des Handwerksgesellen, Wanderungen durch die Schweiz» und schildert das Schicksal eines wandernden Gesellen aus Deutschland, der in der Schweiz in den Strudel einer hoch politisierten Atmosphäre und politischer Unruhen gerät. Währenddem deutsche Handwerksvereine und exilierte Frühsozialisten unter den Gesellen agitieren, machen sich Schweizer Radikale die Berufung der Jesuiten an das Priesterseminar und die Höhere Lehranstalt des Kantons Luzern propagandistisch zunutze, um für den Bundesstaat zu werben. Der Roman ist der Versuch eines Panoramas der politischen Entwicklungen in der ersten Hälfte der 1840er-Jahre. 

Anlass zum Roman war eine Anfrage Gotthilf Ferdinand Döhners (1790–1866), des Vorsitzenden des Zwickauer Volksschriftenvereins. Döhner suchte nach geeigneten belehrenden Volksschriften und erhoffte sich wohl einen typischen Handwerksroman, in welchem ein Junge durch Fleiss, Geduld, Ausdauer und christlichen Glauben zum Meister wird. Gotthelf lieferte dagegen eine Bekehrungsgeschichte. Im Zentrum steht nicht ein fleissiger Handwerksgeselle, sondern der lebensunerfahrene, leichtgläubige und hochmütige Handwerksgeselle Jakob, der auf seiner Wanderung über Basel, Zürich, Bern und Freiburg bis nach Genf gelangt. Schritt für Schritt zeichnet Gotthelf das Bild einer sittlichen Verrohung unter dem Einfluss der Agitatoren seiner Zeit, bis Jakob schliesslich in die Genfer Unruhen von 1843 verwickelt wird.

Erst hier verwandelt sich der satirische Roman über die Folgen politischer Agitation in einen Handwerksroman mit Aufstiegsmuster. Mit dem Tiefpunkt der moralischen Entwicklung der Romanfigur ist zugleich der Wendepunkt erreicht: Der Deutsche Jakob wendet sich vom politischen Geschehen im Gastland ab und kann, nachdem sich ihm die höhere Sittlichkeit (und Gott) in der Bergwelt des Oberlandes offenbart hat, allmählich sittliche Reife erlangen.

Schliesslich muss Jakob lernen, dass sein Bestimmungsort in der eigenen Heimat liegt. Die erwünschte Heirat im Haslital bleibt ihm verwehrt. So kehrt Jakob am Ende des Romans zu seiner Grossmutter nach Deutschland zurück, um dort gereift und geläutert ein sittliches Leben als Meister zu führen.

Während sich so der Roman im zweiten Teil dem Gattungsmuster des Handwerksromans annähert, bleibt das Erzählte doch über weite Strecken das Vehikel für eine politische Grundsatzdebatte, in welcher Gotthelf klarer als in irgendeinem anderen Text seine christliche Position gegen den politischen Radikalismus und gegen den Frühsozialismus bezieht. Zentrales Thema des Romans «Jakobs Wanderungen» sind die politischen Entwicklungen der 1840er-Jahre, die Gotthelf aus seiner kritischen Perspektive schildert. Dabei geht es – auch wenn Jakob teils in den Strudel der Ereignisse gerät – weniger um die tagespolitischen Verwicklungen als um die politische Grundsatzauseinandersetzung zwischen dem Christentum einerseits und den sich auf die Bibel berufenden neuen Ideologien des Sozialismus und Kommunismus. Einen kritischen Blick wirft er insbesondere auf die Mechanismen der politischen Meinungsbildung in deutschen Handwerksvereinen und stellt den in den 1840er-Jahren unter Zeitgenossen diskutierten Konzepten von «Kommunismus» und «Sozialismus» das Menschenbild einer christlichen Weltanschauung entgegen. Damit reiht sich der Roman in eine breite Auseinandersetzung mit dem Frühsozialismus ein.

Dies schien umso gebotener, als nicht wenige frühsozialistische Theoretiker ihre Gesellschaftsutopien als Verwirklichung der in der Bibel vertretenen Prinzipien verstanden. Gotthelfs Roman nimmt dabei Teil an einer Auseinandersetzung mit dem Sozialismus und Kommunismus um die Deutungshoheit in Fragen der menschlichen und gesellschaftlichen Entwicklung, wie sie in der Schweiz von zahlreichen Theologen in Reden und Schriften geführt wurde.

12. Oktober 2021

Montecristo

Martin Suter: Montecristo, Diogenes,
Zürich, 2015
Eigentlich möchte Jonas Brand nur sein Filmprojekt «Montecristo» verwirklichen. Doch dann gerät der Journalist immer tiefer in eine Sache, die grösser ist als jeder Blockbuster – mit immensen Folgen für unser Finanzsystem. (Klappentext)

BE: Stadt Bern  BS: Stadt Basel  GR: Prättigau  ZH: Stadt Zürich (Hauptschauplatz) Thailand: Bangkok

2. Oktober 2021

Gehen, weiter gehen

Erling Kagge: Gehen. Weiter gehen, Insel,
Berlin, 2018
Er ist einer der grössten Abenteurer unserer Zeit. Er war am Nordpol und am Südpol, hat den Mount Everest bestiegen, aber er war auch tagelang zu Fuss in Los Angeles unterwegs und ist hinabgestiegen in die Unterwelt Manhattans. Er hat die Juan Fernández Insel vor Chile aufgesucht, um dort den höchsten Berg zu erklimmen – weil er in die Fussstapfen von Robinson Crusoe treten wollte. Aber auch als Städter ist er ständig unterwegs. Wochentags läuft er zu Fuss zur Arbeit, am Wochenende bricht er auf in die Natur, die gleich hinter der Haustür beginnt.

«Das Leben ist ein langer Fussmarsch», sagt Kagge. Dies kann ein riskanter Marsch über Gletscherspalten, aber auch ein Spaziergang durch einen städtischen Park sein. Der Effekt ist derselbe: Ein Glücksgefühl stellt sich ein, unsere Gedanken beginnen zu fliessen, unser Kopf wird klar, äußere und innere Welt gehen ineinander über, wir werden eins mit der Welt – im Gehen. Denn «der Kopf braucht Bodenhaftung, die bekommt er durch die Füsse».

Der Abenteurer und Weltenwanderer Erling Kagge hat sich auf eine meditative Reise begeben, Philosophen, Autoren und Weggefährten befragt und mit seinen Füßen die Welt ausgeschritten und vergrößert. Das können wir auch. Denn «alle Menschen sind geborene Entdecker».
(Klappentext)

20. September 2021

Die Spirale – Etappe 8

In 19,6 km von Belp-Steinbach nach Bern-Brünnen Westside.

Plötzlich knackte es im Unterholz. Es war viertel nach acht und ich im Cholholz oberhalb Belps, als der Orientierungsläufer auftauchte. Ich stand zufälligerweise bei einem Posten, den der Frühsportler nun aus dem Boden zog. Er hätte ihn falsch gesetzt und andere Posten auch. Der Alptraum eines jeden OL-Veranstalters, als den sich der Läufer nun entpuppte, ehe er sich von dannen machte.

Ich ging indes weiter bergan, kämpfte gegen feuchtes Gras und hoffte, bald dem Nebel entkommen zu können. Und in der Tat, bald schon drangen die ersten Sonnenstrahlen durch das Geäst und zauberten ein mystisches Bild in die Landschaft. Im Weiler Englisberg angelangt, wurde ich von freundlicher Wärme empfangen. Doch das Glück dauerte nicht lange. Eine halbe Stunde später erhielt der Wasserdampf wieder die Oberhand; und zwar bis ich kurz nach Mittag an meinem Ziel in Bern-Brünnen Westside eintraf.

Der 918 Meter hohe Zingghöch markierte den höchsten Punkt der knapp 20 Kilometer langen Route. Über eine triefendnasse Weide stieg ich ab in Richtung Schlatt. Meine Leichtwanderschuhe erwiesen sich als nicht mehr so wasserdicht, wie sie es einmal waren. Grummel.

Die unverhofft am Wegrand stehende Kirche der Evangelisch-methodistischen Kirche in Schlatt erinnerte mich daran, dass das in meinem Verlag erschienene «Zu Fuss von Frauenfeld nach London» des Methodisten-Pfarrers Jörg Niederer demnächst eine dritte Auflage erfahren wird. Vom Gotteshaus zum Fussballplatz des FC Sternenberg waren es nur ein paar Schritte. Der Viertligaklub nennt seine schattig gelegene Sportstätte nicht unbescheiden «Schlatt-Arena». Das stirnseitig zum Fussballplatz gelegene Beizli mit grosser gedeckter Terrasse verspricht fröhlichen Kickgenuss. Irritiert hatte mich jedoch ein Plakätlein, das auf ein Zuschauerverbot bei Trainings und Spielen von Kinder- und Jugendmannschaften hinweist. Echt jetzt?

Gasel als nächstes Zwischenziel. Wie an anderen Orten auch, haben hier liebe Menschen einen Bücherschrank aufgestellt. Ich konnte einmal mehr nicht widerstehen und unterbrach meinen Schritt. Die Ausbeute: Alex Capus' «Königskinder» sowie Ingrid Nolls «Hab und Gier» in der gebundenen Ausgabe von Diogenes. Himmlisch!

In Mengesdorf entdeckte ich gleich mehrere schmucke Häuser und Nebengebäude, die nur wenige Jahre vor dem Einmarsch der Franzosen anno 1798 erbaut wurden. Es folgte die Überschreitung des Mengesdorfbergs nach Herzwil und der anschliessende Abstieg ins Wangental. Welch ein Kontrast innerhalb einer halben Stunde! Moosiger Waldboden und landwirtschaftlich geprägtes Ambiente wichen brachialen Industriezonen, einer lärmigen Autobahn und unmittelbar angrenzenden Wohngebieten. Ein lebensfeindliches Revier, garniert mit Bauprofilen, die den letzten Grünflächen unmissverständlich den Kampf ansagen.

Zügigen Schrittes flüchtete ich aus dieser pedestrischen Enge an den scharfen Rand zwischen Urban und Agrar. Am Horizont zeichnete sich bereits mein Ziel ab: Der 2008 eröffnnete und von Daniel Liebeskind entworfene Konsum-, Schwimmbad- und Hoteltempel «Westside». 69 Ladengeschäfte beherbergt die architektonisch bemerkenswerte Baute, der ich einen Besuch nicht verwehren konnte. Mei war das skurril! Wo auf meiner Landkarte noch unverbautes Land eingezeichnet ist, tummelt sich heute das shoppingwütige Volk. Vom Nagelstudio über den Tiershop, den Gameshop, Denner, Migros, Decathlon, SportXX, Restaurants, Dutzende von Kleidergeschäften und -boutiquen bis hin zu Schickimicki-Parfümshops, ist alles da, was auch in der Berner Innenstadt zu haben wäre.

Nachdem ich auf allen vier Etagen meine Runde gedreht hatte, fehlte mir die Orientierung komplett. War ich von Belp bis zur Tempelpforte ohne einen einzigen Kartenlesefehler gelangt, wusste ich nun nicht mehr, wo der für mich relevante Ausgang war. Immerhin schaffte ich es beim zweiten Anlauf, zurück zum Vorplatz zu finden, wo ich mich schleunigst zur abfahrbereiten S-Bahn begab, um dem Grauen so schnell wie möglich den Rücken kehren zu können. Doch keine Angst: Westside, ich werde wiederkommen, und sei es bloss, um die 9. Etappe meiner zirkularen Forschungsreise rund um Bern in Angriff zu nehmen. Fotos zur 8. Etappe gibt es hier.

Der Projektstand (grün) nach 8 Etappen.


17. September 2021

Berner Affären

Hans Suter: Berner Affären, Emons,
Köln, 2016
Der Nationalrat einer Rechtspartei verliebt sich während der Frühjahrssession in eine Kollegin aus dem gegenrischen Lager. Nach einer gemeinsamen Liebesnacht wird er in den Lauben der Marktgasse überfallen. Anderntags wird dort ein Junge tot aufgefunden. War es ein Unfall oder Mord? Fahnder Max Freuler, eben erst von Basel nach Bern gezogen, ermittelt im Farbnebel von Graffiti, Erpressung, Mord und Brandstiftung. (Klappentext)

BE: Stadt Bern und Umgebung (Hauptschauplatz) BS: Stadt Basel ZH: Stadt Zürich

10. September 2021

Niedergang

Roman Graf: Niedergang, btb, München,
2015

Ein junges Paar bricht zu einer Tour in die Schweizer Berge auf. André und Louise wollen hoch hinauf und scheinen für ihr Abenteuer gut gerüstet. Doch je näher sie dem Gipfel kommen, desto mehr entfernen sie sich voneinander. Als Louise aufgibt, ist das für André kein Grund, es ihr gleichzutun. Denn er will, ja er muss zu Ende bringen, was er einmal angefangen hat. (Klappentext)

Moors Fazit: Was ich nicht verstehe: Weshalb schafft es ein solcher Roman mit Platitüden, unrealistischen Landschaftsbeschreibungen, einer lapidaren Handlung sowie einem Ende, das der Titel schon vorgibt, in die Nomination für den Schweizer Buchpreis? Bin ich zu anspruchsvoll, oder ist das literarische Niveau nicht mehr dasselbe wie vor 10 oder 20 Jahren?

9. September 2021

Achtung Baby!

Michael Mittermeier: Achtung Baby!
Kiepenheuer & Witsch, Köln, 2010
Jahrelang hat Michael Mittermeier auf der Bühne Spässe über junge Eltern gemacht. Vor Kurzem ist er selbst Vater geworden. Wie seine Tochter sein Leben verändert und worüber er jetzt lacht, erzählt er in diesem Buch.

«Achtung Baby!» ist ein wunderbar selbstironischer und herzzerreissend ehrlicher Bericht über eine Zeit im Leben, in der sich Gefühle von Stolz, Unsicherheit und Glück rasant abwechseln. Eins ist danach klar: Das Leben mit Kindern ist anders als man denkt, nämlich viel lustiger. (Klappentext)

Moors Fazit: Ein mitunter zum Brüllen lutiges Buch. Wäre ja auch gelacht, wenn der Mittermeier bei diesem Thema nicht aus dem Vollen geschöpft hätte. Daher: beste Unterhaltungsliteratur für alle, egal ob Kindermuffel oder Kinder-Nerd.

8. September 2021

Die Spirale – Etappe 7

Mit der Rucksackfähre über die Aare: von Boll-Utzigen nach Belp-Steinbach.

Über fünf Monate sind es nun her, seit ich die letzte Etappe meiner Wanderspirale absolviert habe. Nicht, dass mir das Projekt etwa verleidet wäre, ganz im Gegenteil, doch die Route der Etappe 7 bedingte die Überquerung der Aare mit einem Boot, was angesichts der Wetter- und Hochwasserverhältnisse der vergangenen Monate ein Ding der Unmöglichkeit war.

Am vergangenen Sonntag waren die Gegebenheiten indes perfekt, so dass ich die Fortsetzung der Spirale an der Haltestelle von Boll-Utzigen in Angriff nehmen konnte. Unter einem Himmelblau der Superlative zog ich Richtung Dentenberg, den es zum zweiten und letzten Mal im Rahmen dieses Projektes zu überschreiten galt. Oben angekommen zeigten sich vor der splendiden Aussicht auf die Alpen ein in Weiss gedeckter Tisch mit Rednerpult, daneben ein Abendmahlskelch, eine Kerze und eine Vase mit Blumenbukett. Auf der Wiese hinter der pfarrherrlichen Anordnung mehrere Reihen Festbänke und ganz rechts ein aus Bläserinnen und einem Bläser bestehendes Kirchenorchester. Noch waren kaum Gottesdienstbesucher anwesend. Die Musikusse nutzten die Gunst der Stunde und übten noch das eine oder andere Stück.

Die Heile-Welt-Idylle wurde leider durch zunehmenden Autoverkehr getrübt. Alle wollten sie auf den Dentenberg, in die Beiz, zum Gottesdienst, zum Spazieren, zur Erholung. Da kam für mich der Ruf der Ebene gerade recht. Gemütlichen Schrittes stieg ich durch eine Wohnlage für Mehrbessere nach Rüfenacht hinab, überquerte daselbst einmal mehr die Geleise des «Blauen Bähnlis» und verschwand im morgenkühlen Hüenliwald. Das erfrischende Waldbad war nur von kurzer Dauer und der Asphalt des «Bahnhofsträssli» hatte mich wieder. Welch seltsamer Name einer Strasse, wo sich doch weit und breit kein Bahnhof befand. Nun, die Bezeichnung dürfte wohl aus früheren Zeiten stammen, wo das nahe Allmendingen über eine abseits des Dorfes gelegene Haltestelle an der Bahnstrecke Bern–Thun verfügte. Mitten im Ort dient heute eines der beiden ehemaligen Wartehäuschen als Unterstand für Buspassagiere. Auf dem Dach prangt das alte Emailschild der SBB-Haltestelle in weisser Schrift auf blauem Grund.

Hinter Allmendingen senkte sich der Weg hinab zur Autobahn A6, deren Lärm permanent auf die nähere und weitere Umgebung brandete. Ein letzter Abstieg führte mich an einen Seitenarm der Aare, diesem folgend ich schliesslich zur eigentlichen Aare gelangte. Mit leicht erhöhtem Puls nahm ich einen Augenschein der Szenerie, insbesondere von der Fliessgeschwindigkeit der Aare. Würde ich mit meinem Mini-Packraft das andere Ufer erreichen, ohne gleich kilometerweit abgetrieben zu werden?

Kribbelig wie ich war, begann ich auf einem Sporn das Raft von Hand aufzublasen. Dann noch kurz der wasserdichte Rucksack auf dem Bug festgezurrt, die Schwimmweste montiert und los ging's! Die Strömung hatte im Nu meine Nussschale gepackt, so dass ich mich mit dem Doppelpaddel hart ins Zeug legen musste. Ich gebe es gerne zu, am liebsten hätte ich das gegenüberliegende Ufer sausen und mich bernwärts treiben lassen. Die Vernunft gewann freilich die Oberhand, und ehe ich mich's versah, kam der Sporn, den ich zum Anlanden ins Auge gefasst hatte, in Griffnähe. Nach rund drei Minuten war der Spuk vorüber und schon lagen meine Siebensachen zum Trocknen an der Sonne.

Zurück auf der Spiralwanderstrecke gelangte ich strammen Schrittes in die Industriezone von Belp. Mei, was herrschte hier für ein Verkehr! Ich fragte mich, ob dies am Sonntagmittag immer der Fall sei, oder ob dies lediglich eine der vielen Auswirkungen des an diesem Tag stattfindenden Ironman-Switzerland-Rennens darstellte. Wenige Minuten vor meinem Ziel in Belp-Steinbach überquerte ich bei einem mit mehreren Verkehrspolizisten bestückten Kreisel die Rennstrecke und war glücklich, meinen seit langem fälligen «Duathlon» siegreich bestanden zu haben. Auf den kommenden sechs Etappen der Wanderspirale wird das Packraft indes zu Hause bleiben, ehe dann über den beschaulichen Wohlensee gepaddelt wird. Eine ausführliche Bildstrecke dieser 12,3 km langen Etappe gibt es hier.

In Grün das Ergebnis von 7 Etappen auf der Wanderspirale.

7. September 2021

Der zweite Nansen

Es ist an der Zeit, dass hier wieder einmal über meinen kleinen Verlag, die Edition Wanderwerk, berichtet wird. In letzter Zeit sind nämlich – von der Lokal-, National- und Weltpresse einmal mehr schnöde ignoriert – weitere Bücher erschienen. Es waren dies einerseits Neuauflagen, so zum Beispiel «Gehzeiten», «Rucksacktage» oder «Aargau rundum» als auch eine neue Publikation mit dem schönen Titel «Freiluftleben». Stammen die ersten drei Bände von mir selbst, handelt es sich beim letztgenannten Buch um ein Werk des legendären Norwegers Fridtjof Nansen:

 «Am nächsten Morgen ging es über das Filefjell weiter nach Bjöberg. Gerade als ich von Breistölen aufbrach, ging die Sonne auf und ergoss ihre Röte über das Nebelmeer und die Berggipfel, die wie weissrote Zelte aus dem Nebel aufragten. Das Tal, aus dem ich kam, lag ganz unter den Nebelwogen verborgen. Über der Berglandschaft aber spaltete sich der Nebel immer mehr und mehr, so dass die Sonne in breiten Streifen durchdrang, während einzelne warmgetönte Nebelfetzen um die Gipfel krochen.»

Fridtjof Nansen, der Mann der Tat, der zähen Energie, der Sieger über die Gewalten des Polareises, weist uns den Weg zur Gesundheit und Freiheit. Er ist ein Erzähler, dem man sich mit Freuden anvertraut. In seinen Reiseschilderungen aus Norwegen, Island und Jan Mayen, führt der Friedensnobelpreisträger den Leser zurück zur Natur. Nansens Erlebnisse werden ergänzt mit einem Aufsatz von mir zum Thema «Friluftsliv» (Freiluftleben) und einem Gedicht von Henrik Ibsen. Nach dem im Jahr 2016 erschienenen «Im Eise begraben / Abenteuerlust» ist «Freiluftleben» der zweite Titel, der in der Edition Wanderwerk veröffentlicht wird. Hier kann er auch direkt bestellt werden.

6. September 2021

Jaun im Greyerzerland

Diverse Autoren: Jaun im Greyerzerland,
Deutschfreiburger Heimatkundeverein,
Freiburg, 1989
Jaun ist in vielfacher Hinsicht einzigartig, eine Gemeinde und Pfarrei der Rekorde! Ist es da verwunderlich, dass auch die vorliegende Monographie einen Rekordumfang aufweist? Trotz des Umfangs wird vieles nur angedeutet, manches überhaupt nicht erwähnt. So müsste etwa die Geschichte Jauns, die hier nur in Ansätzen dargestellt wird, erst noch aufgearbeitet, die sprachliche Entwicklung zusätzlich untersucht werden und vieles weitere mehr. 

Ist Jaun ein Sonderfall? Ja und Nein! In Jaun leben wie überall Menschen, die sich im Alltag behaupten müssen, ihre Sorgen und Nöte, aber auch ihre Freuden kennen. Doch trifft für Jaun und seine Bewohner vieles zu, das im Kanton einmalig und einzigartig ist : Jaun ist das höchstgelegene Dorf des Kantons und die einzige deutschsprachige Gemeinde im sonst französischsprachigen Greyerzbezirk. Die Jauner sprechen einen eigenen, nur ihrer Gemeinde vorbehaltenen Dialekt, der – auch dies einmalig im Kanton – klar erkennen lässt, dass die Alemannisierung Jauns aus dem Simmental erfolgt ist. Die alte kulturelle Verbundenheit mit dem Simmental und dem Saaneoberland wirkt auch im Hausbau, in der Siedlungsart und – im Fall der Alten Kirche – beim Kirchenbau nach.

Jaun hat einen Wasserfall, wie es im Kanton keinen zweiten gibt, und nützt die Wasser des Jaunbachs im einzigen privaten Elektrizitätswerk des Kantons zur Stromerzeugung aus. In
Jaun führte man Auto- und Motorradrennen zu einer Zeit durch, als man andernorts Autos noch kaum zu Gesicht bekam (und schaffte die Rennen wieder ab, als man andernorts erst damit anfing!). Aus Jaun stammen Schweizermeister im Skilanglauf und die ersten Eigernordwandbezwinger Deutschfreiburgs!

Pfarrei und Gemeinde Jaun haben bis heute die Gütertrennung nicht vollzogen. Gemeinde- und Pfarreiversammlun finden jeweils nacheinander am gleichen Abend statt. Der Kampf ums Überleben in einer Umwelt, die in ihrer Kargheit keine Geschenke macht und gar oft zum Feind wird (Lawinen!), prägte das Volk, kittete es zusammen und liess es in der Religion Halt finden. Ist es da verwunderlich, dass es in Jaun-Im Fang drei Kirchen und ebenso viele Mariengrotten gibt und die Pfarrei Priester, geistliche Brüder und Schwestern in einer Menge hervorgebracht hat, die ihresgleichen im Kanton sucht? Wohl aus dem gleichen Geist des Sichbehauptenmüssens heraus stellte Jaun immer wieder .auch. in Politik und Wirtschaft überdurchschnittlich viele Persönlichkeiten. 

Schon diese paar Hinweise mögen genügen, um aufzuzeigen, wie sehr Jaun einer Monographie würdig ist. Zwischen der Idee des Jaunbuches und der Verwirklichung vergingen allerdings mehrere Jahre. Das Festlegen der Themen und die Wahl der Autoren – wobei möglichst viele Einheimische zu Wort kommen sollten –, die Bereitstellung und Durchsicht der zahlreichen Manuskripte, die Redaktion und Drucklegung waren sehr aufwendig und arbeitsintensiv. Ich danke deshalb allen Autoren und Mitarbeitern nicht nur herzlich für den Beitrag, den sie an das Jaunbuch geleistet haben, sondern auch für die Geduld, die sie bis zur Herausgabe des Buches mit dem Redaktor hatten beziehungsweise haben mussten.

Beim vorliegenden Jaunbuch handelt es sich um einen Sonderdruck aus den gleichzeitig erscheinenden «Deutschfreiburger Beiträgen zur Heimatkunde», die vom Deutschfreiburger Heimatkundeverein herausgegeben werden. Allen, die zum guten Gelingen dieses Werkes beigetragen und mit ihrer finanziellen Unterstützung den Druck und die Herausgabe des Jaunbuches ermöglicht haben, sei ganz herzlich gedankt. (Vorwort von Moritz Boschung, Ehrenpräsident des Deutschreiburger Heimatkundevereins)

5. September 2021

Warum hast du dich nicht gewehrt

Rosalia Wenger: Warum hast du dich nicht
gewehrt, Zytglogge, Bern, 1982

Rosalia Wengers grosser Erfolg «Rosalia G. – ein Leben» hat vor allem die Autorin überrascht. Das Echo, das dieses Buch auslöste – sei es als Dokument aus einer Zeit, von der man plötzlich feststellte, dass man fast gar nichts wusste; sei es als Geschichte eines harten Frauenlebens – war überwältigend. Um ein überschaubares Buch zu erhalten, musste man aus dem umfangreichen Manuskript von «Rosalia G.» vieles auf später verschieben. Die Autorin: «Trotzdem wurmte es mich, dass nun so viele Geschichten nicht im Buch standen. Bei Lesungen las ich einige von ihnen immer wieder vor und hatte Erfolg. Diese «verlorenen Geisteskinder» habe ich nun gesammelt, bearbeitet und ergänzt.»

So ist nun ein Buch entstanden, das weiter in die karge Welt in der Lischern hineinleuchtet, das genaue Beschreibungen gibt von der harten Alltagsarbeit, von den Sorgen der kleinen Leute und den Benachteiligungen zuerst des Verdingkindes und später der Frau.

Diese Geschichten können nicht konstruiert werden; sie wurden aufgeschrieben von einer Frau, die das alles selber erlebt hat und im Alter die Kraft fand, Zeugnis abzulegen. Manchmal tagebuchartig, meist in kurzen, einfachen Geschichten treten Augenblicke, Gefühle, Ereignisse hervor, die wohl von einer düsteren Vergangenheit berichten, aber die frohen, ja fröhlichen Momente nicht vergessen. (Klappentext)

Die Autorin

Rosalia Wenger wurde am 5. Juni 1906 als uneheliche Tochter der Dienstmagd Rosina Wenger in Basel geboren. Ihr Vater war der deutsche politische Flüchtling Albin Lessing, der jedoch kurz nach der Geburt seiner Tochter in die USA emigrierte. Sie wuchs bei ihren Grosseltern auf dem Hof Lischern in der Nähe von Schwarzenburg im Kanton Bern auf. Die Grossmutter war ihre Ersatzmutter, da die Mutter über zu geringe finanzielle Mittel verfügte.

Schon als Elfjährige wurde Rosalia Wenger zu Fuhrhaltersleuten in Schwarzenburg verdingt. Als junge Erwachsene hatte sie als Dienstmädchen und Arbeiterin neun verschiedene Stellen in der ganzen Schweiz inne, bevor sie in Bern eine Berufslehre als Glätterin und Wäscherin absolvierte und als solche in Bern tätig war. 1932 heiratete sie den Arbeiter Werner Grützner, mit dem sie zwei Töchter hatte. Die Ehe stand wiederholt kurz vor der Scheidung, da sie ihr Mann zeitweise wie ein Dienstmädchen behandelte und ihr jahrelang Besuche und Reisen verbot.

1960 wurde sie vom Schwiegersohn ermutigt, ihre Zeit als Verdingkind, Arbeiterin, Dienstmädchen und unglückliche Ehefrau erzählerisch aufzuarbeiten. Nach dem Tod ihres Mannes trat Rosalia Wenger der Berner Frauenbefreiungsbewegung (FBB) bei. 1978 erschien ihre Autobiografie «Rosalia G.», die umgehend zu einem viel gelesenen Werk avancierte. Dafür erhielt sie 1979 den Buchpreis der Stadt Bern. Weitere Begebenheiten aus ihrem Leben, die nicht im ersten Buch Platz gefunden hatten, erschienen 1982 unter dem Titel «Warum hast du dich nicht gewehrt.» Rosalia Wenger starb am 5. Dezember 1989 im Alter von 83 Jahren. Nach ihr wurde 2004 bei der S-Bahn-Station Wankdorf in Bern ein Platz benannt.

4. September 2021

Tannöd

Andrea Maria Schenkel, Tannöd,
Nautilus, Hamburg, 2006
Sie nennen ihn nur noch den Mordhof, den einsam gelegenen Hof der Danners in Tannöd. Eine ganze Familie wurde in einer Nacht ausgelöscht, mit der Spitzhacke erschlagen. Gemocht hat sie kaum jemand, mürrische, geizige Leute waren sie und den ein oder anderen hat der alte Bauer wohl auch übers Ohr gehauen. Aber selbst die Kinder wurden grausam ermordet, und so geht die Angst um im Dorf, denn vom Mörder fehlt jede Spur. Diese Spur muss der Leser aufnehmen.

Unheimlich wird es, weil man jeden Schritt des Mörders mitverfolgt, ihn beobachtet bei seinen alltäglichen Verrichtungen, ohne seine Identität zu kennen. Die spannende Unruhe, die einen bis zum Ende nicht verlässt, löst sich erst auf, wenn das Mosaik komplett ist. (Inhaltsangabe zum Buch)

«Tannöd» ist Andrea Maria Schenkels Debüt, für das sie den Deutschen Krimi Preis sowie den Friedrich-Glauser-Preis 2007 erhielt.

3. September 2021

Foroglio

Diverse Autoren: Foroglio, Agenziakay,
Foroglio, undatiert
Foroglio ist ein Ort, der aus vielen Orten besteht. Foroglio ist eine wunderbare Location. Um einen Tag zu verbringen, eine Woche, ein Leben. Um einen Film zu drehen. Um sich zu begeistern. Um auf Augen und Seele das einzigartige Zusammenspiel von Stein, Wasser und Himmel wirken zu lassen. Und darauf ins Flachland zurückzukehren und zu sagen: Ich war dort, wo die Welt entsteht. (Klappentext)

2. September 2021

Irinas Buch der leichtfertigen Liebe

Tim Krohn: Irinas Buch der leichtfertigen
Liebe, Diogenes, Zürich, 2000
Eigentlich will die in Paris lebende Russin Dunja ihrem Mann ein Fax nach Moskau schicken – dass es bei seiner Ex-Geliebten Ewa in Schweden landen wird, kann sie nicht wissen. Das fehlgeleitete Fax bringt Turbulenz ins Leben und die Phantasie der jetzigen und einstigen Liebenden. Als Ewa sich entschliesst, nach Paris zu fliegen, löst dies einen Wirbel von Missverständnissen aus. Und je mehr die Beteiligten die Verhältnisse in den Griff zu bekommen versuchen, desto grösser wird die Verwirrung.

Wieder einmal zeigt sich, dass die Welt mehr Vorstellung als Wille ist, dass Erotik vor allem im Kopf entsteht – und dass die Liebe ein zauberhaftes, kompliziertes Ding ist. (Klappentext)

F: Paris RUS: Moskau S: Svärdsjö

1. September 2021

Das Freiburger Soldatenhaus

Diverse Autoren: Das Freiburger Soldatenhaus,
Chalet du Soldat, Fribourg, 1995
1945 beschloss eine Gruppe von Freiburger Offizieren, zu Ehren eines unbekannten Soldaten im Sinne eines Denkmals ein Chalet zu errichten. Es erhielt den Namen «Chalet du Regiment». Anlass dazu war die Kriegsmobilmachung. Umgesetzt wurde das Vorhaben zu Beginn einer Periode, die man als «Kalten Krieg» bezeichnet. Diese Epoche war charakterisiert durch die Konfrontation zweier Weltanschauungen, erstarrt unter einem Gleichgewicht des Schreckens durch nukleare und konventionelle Überrüstung. 

50 Jahre später präsentiert sich die Welt in einer veränderten Lage. Sie erlaubte es, ohne die Sicherheit unseres Landes zu gefährden, die wichtigste Reform der Armee seit ihrer Gründung an die Hand zu nehmen: die Armee 95. Die Armee 95 zeichnet sich aus durch eine neue Doktrin und veränderte Strukturen und führt zu einer Verjüngung sowie einer besseren Anpassung der Vorhandenen Mittel an die Aufgaben. Der sicherheitspolitische Bericht, der dieser Konzeption zugrunde liegt, hebt auch Fragen zur Zukunft unseres Landes hervor, die offen bleiben. Diese Fragen, seien sie allgemeinpolitischer oder sicherheitspolitischer Natur, müssen im Rahmen des Dialogs angegangen werden. 

Das Soldatenhaus ist ein symbolischer Ort der Begegnung zwischen Armee und Zivilleben, zwischen Generationen, die einen Moment ihrer Existenz teilen, mit unterschiedlichen Erfahrungen, aber einem gemeinsamen Ziel: der Schweiz und ihrer Bevölkerung eine Zukunft in Frieden und Wohlergehen zu sichern. Es ist ein guter Ort für einen offenen und konstruktiven Dialog. Um dorthin zu gelangen, braucht es körperliche Anstrengung. Aber oben angelangt, erlebt man Befriedigung über das erreichte Ziel. Gleich verhält es sich mit den Anstrengungen, die es braucht, um künftige Ziele unseres Landes zu erreichen. Die Lage des Chalets am Fusse der Gastlosen symbolisiert diesen Aspekt: ein Berg, der einlädt, ihn zu besteigen. Nicht als Hindernis, das es zu überwinden gilt, sondern als Herausforderung, neue Wege zu öffnen und andere Horizonte zu finden. Das Soldatenhaus möge somit ein Ort der Begegnung sein und zum Dialog einladen. Es soll dazu beitragen, Meinungsverschiedenheiten aufzulösen und einen Konsens im Interesse von uns allen zu finden. (Vorwort von Kaspar Villiger, damaliger Vorsteher des Eidgenössischen Militärdepartementes und zugleich Bundespräsident)

31. August 2021

Landjäger

Denise Locher, Flurina Gradin:
Landjäger, Eigenverlag, Zürich, 2011
Die Schweiz zählt rund 6000 Dörfer. Der vorliegende Reiseführer stellt daraus eine erlesene Auswahl von 60 Ortschaften in Bild und Text vor. Im Fokus stehen jene Dörfer, die sich fern ab von Agglomerationswuchs und touristischer Belagerung bis in die heutige Zeit einen eigenständigen Charakter bewahren konnten, und die gerade deshalb eine spannende Mischung an Authentizität und Neuentdeckungen zu bieten haben. 

Ob kulinarische Trouvaillen oder historische Kuriositäten, Dorforiginale oder feingliedrige Architektur in wildromantischer Umgebung, ist die Auswahl darauf bedacht, ein möglichst abwechslungsreiches Bild der geografischen und kulturell en Vielfalt der Schweizer Dorflandschaft zu vermitteln. 

Auf den folgenden Seiten wird der Leser mit genügend Informationen ausgestattet, um sich als Landjäger neugierig auf die Pirsch nach sechzig versteckten Kleinoden zu begeben. Der Reiseführer soll aber auch als Inspirationsquelle für eigenhändig recherchierte Dorf touren dienen. Mit der Einstellung, ein Dorf zu besuchen und sich vor Ort Zeit zu nehmen und die Umgebung zu erkunden, ergeben sich unerwartet spannende, neue Blickwinkel und Begegnungen.

Wir wünschen viel Vergnügen mit dem Buch und sagen: hinaus an die frische Luft, hinein in die Provinz und ran an den Stammtisch! (Vorwort der Autorinnen)

30. August 2021

Der Fälscher, die Spionin und der Bombenbauer

Alex Capus: Der Fälscher, die Spionin und
der Bombenbauer, dtv, München, 2015
Nur einmal können die drei einander begegnet sein: Im November 1924 am Hauptbahnhof in Zürich, wo die Geschichte einsetzt. Danach führen ihre Wege auseinander und bleiben doch auf eigentümliche Weise miteinander verbunden.

Der pazifistische Jüngling Felix Bloch studiert Atomphysik bei Heisenberg in Leipzig, flüchtet 1933 in die USA und gerät nach Los Alamos, wo er Robert Oppenheimer beim Bau der Atombombe helfen soll. Die rebellische Musikantentochter Laura d’Oriano versucht sich als Sängerin, doch da ihr das grosse Talent fehlt, lässt sie sich als Spionin rekrutieren. Der Kunststudent Emile Gilliéron folgt Schliemann nach Troja, zeichnet Vasen und restauriert Fresken, fertigt auf Wunsch auch Reproduktionen an – und muss bald einsehen, dass es von der Kopie bis zur Fälschung nur ein kleiner Schritt ist.

Alex Capus treibt seinen Erzählstil des faktenreichen Träumens zu neuer Meisterschaft. Er zeichnet die exakt recherchierten Lebensläufe dreier Helden nach, die durch die Macht der Umstände gezwungen werden, von ihren Wünschen und Hoffnungen abzulassen – um schliesslich in der Niederlage zu triumphieren. (Inhaltsangabe zum Buch)

Moors Fazit: Aller negativen Kritiken zum Trotz: Mir hat dieser Roman ausserordentlich gut gefallen. Alleine schon die Idee, diese drei Figuren, die sich womöglich nie wirklich begegnet sind (wir wissen es nicht), in eine Geschichte mit fiktiven Übergängen zu verpacken, ist bemerkenswert. Alex Capus lässt seine Leserschaft in eine höchst spannende Zeitepoche eintauchen, von deren Protagonisten vermutlich die wenigsten je etwas gehört oder gelesen haben. So gesehen ist der Roman auch ein Bildungsroman und regt womöglich gar zu weiteren, eigenen Recherchen an. Und dann ist die Erzählsprache Capus': fern jeglicher Effekthascherei, sachlich, stimmig und zu keiner Zeit langweilig. Ein Rundumpaket bester Belletristik im untrivialsten aller Sinne!