28. April 2022

160 cm vs. 2363 km

Christina Ragettli: Von Wegen, Arisverlag,
Embrach, 2022
Christina Ragettli war beruflich am Anschlag, als sie beschloss, sich eine Auszeit zu nehmen. Zuerst spielte die 1992 geborene Bündnerin mit dem Gedanken, den ultralangen Pacific Crest Trail im Westen der USA zu wandern. Dann aber führten verschiedene Überlegungen zur Einsicht, die deutlich kürzere, aber nicht weniger anspruchsvolle «rote» Via Alpina unter die Füsse zu nehmen. Dieser Weitwanderweg führt von Triest durch den gesamten Alpenbogen bis nach Monaco.

Geplant war, im Frühjahr 2020 in Monaco zu starten, um nach rund vier Monaten in Triest anzukommen. Doch dann machte die Corona-Pandemie Ragettlis Ansinnen einen Strich durch die Rechnung. Die junge Frau aus Flims liess sich indes nicht entmutigen und disponierte kurzerhand um. Darauf hoffend, dass die Nachbarländer ihre Einreiserestriktionen mit der Zeit wieder lockern würden, startete Ragettli im Unterwallis in Richtung Triest, wo sie einige Wochen später tatsächlich das Adriatische Meer erreichte. Den Abschnitt vom Unterwallis nach Monaco nahm sie wenige Tage nach ihrer Rückkehr in die Schweiz in Angriff und hielt bis zum Mittelmeer durch. Die insgesamt 2363 Kilometer lange Route bewältigt Ragettli in 100 Wandertagen.

Kürzlich sind nun die Erlebnisse der Fernwanderin in Buchform erschienen. Die Autorin erzählt darin unter anderem, wie es sich anfühlt, als Frau meist alleine unterwegs zu sein und mit dem Zelt in den Alpen wild zu campieren. Christina Ragettli berichtet ausführlich über ihre mentalen und physischen Hochs und Tiefs, gibt zu Protokoll, wann sie wo Handy-Empfang hat und mit wem sie über welche Themen telefonisch debattiert. Der Leserschaft wird auch nicht vorenthalten, wann was gegessen wird, und seien es bloss vegane Gummibärchen oder ein erfrischendes Eis. Selbstverständlich sorgt auch das Wetter für permanenten Schreibstoff. Als Leser gewinnt man hierbei den Eindruck, die tapfere Berglerin habe für ihr Projekt einen ausnehmend schlechten Sommer erwischt, und man leidet förmlich mit, wenn sie sich tagelang im Dauerregen über die Pässe quält. Die Ragettlis seien zäh und ausdauernd, beschreibt Christina Ragettli sich und ihre Familie. Deshalb lässt sich die Wanderin auch nicht von gesundheitlichem Ungemach wie Schulter-, Bauch- und Kopfschmerzen, Blasen, Kapillarblutungen, Sonnenbrand, Schrammen und dergleichen mehr entmutigen.

So abenteuerlich das Erlebte ist und so bemerkenswert die vollbrachte Leistung ausfällt, Christina Ragettlis Bericht lässt leider einiges zu wünschen übrig. So erfahren Leserin und Leser herzlich wenig über die Besonderheiten der durchwanderten Gegend. Ein wenig mehr Recherche wäre deshalb angebracht gewesen. Dafür hätte getrost auf zahlreiche Bemerkungen über Gegessenes und andere Belanglosigkeiten wie WiFi-Empfang, Name-Dropping etc. verzichtet werden können. Als enttäuschend zu betrachten ist das Lektorat/Korrektorat. So sind zum Beispiel etliche Ortsbezeichnungen falsch geschrieben. Auch stilistisch treibt Ragettlis Text immer wieder Blüten, die ein Lektorat/Korrektorat nicht hätten kalt lassen sollen. So zum Beispiel auf der Seite 113: «Nach einer Regennacht auf dem Campingplatz überqueren wir unterirdisch die Brenner-Autobahn ...»

26. April 2022

In Liebe, Agnes

Håkan Nesser: In Liebe, Agnes, btb,
München, 2006

Ein Dreiecksverhältnis, das tödlich endet: Agnes und Henny sind alte Schulfreundinnen, die sich seit Jahrzehnten nicht mehr gesehen haben. Auf der Beerdigung von Agnes Mann treffen sie sich wieder. Zögerlich beginnen sie sich erneut anzunähern, schreiben sich zunächst Briefe, vertrauen sich alte Geheimnisse an. Schritt für Schritt nähern sie sich dabei einem gefährlichen Komplott, detailversessen planen sie einen heimtückischen Mord! Doch eine von beiden spielt falsch … (Inhaltsangabe zum Buch)

Moors Fazit: Ich lese selten ein Buch in einem Tag durch. Dieses hier bildet eine der wenigen Ausnahmen.

18. April 2022

Die Kunst des guten Lebens

Rolf Dobelli: Die Kunst des guten Lebens,
Piper, München, 2017
Seit der Antike, also seit mindestens 2500 Jahren – aber vermutlich noch viel länger –, haben sich Menschen immer wieder die Frage nach dem guten Leben gestellt: Wie soll ich leben? Was macht ein gutes Leben aus? Welche Rolle spielt das Schicksal? Welche Rolle spielt das Geld? Ist das gute Leben eine Sache der Einstellung, der persönlichen Haltung, oder geht es vielmehr um das handfeste Erreichen von Lebenszielen? Ist es besser, nach Glück zu streben oder Unglück zu umschiffen?

Jede Generation stellt sich diese Fragen neu. Die Antworten sind im Grunde stets enttäuschend. Warum? Weil man immer auf der Suche nach dem einen Prinzip ist, dem einen Grundsatz, der einen Regel. Doch diesen Heiligen Gral des guten Lebens gibt es nicht.

Auf verschiedenen Gebieten fand in den letzten Jahrzehnten eine stille Revolution des Denkens statt. In den Wissenschaften, in der Politik, in der Wirtschaft, in der Medizin und in vielen anderen Bereichen hat man erkannt: Die Welt ist viel zu kompliziert, als dass wir sie mit einer grossen Idee oder einer Handvoll Prinzipien erfassen könnten. Wir brauchen einen Werkzeugkasten von unterschiedlichen Denkmethoden, um die Welt zu verstehen. Und genau so einen Werkzeugkasten benötigen wir auch für das praktische Leben.

In den letzten 200 Jahren haben wir eine Welt geschaffen, die wir intuitiv nicht mehr verstehen. Und so stolpern Unternehmer, Investoren, Manager, Ärzte, Journalisten, Künstler, Wissenschaftler, Politiker und Menschen wie Sie und ich unvermeidlich durchs Leben, wenn wir nicht auf einen Vorrat solider gedanklicher Werkzeuge und Modelle zurückgreifen können.

Sie können diese Sammlung an Denkmethoden und Haltungen auch als «Betriebssystem für das Leben» bezeichnen. Mir jedoch gefällt der altertümliche Vergleich mit einem Werkzeugkasten besser. Der Punkt ist: Mentale Werkzeuge sind wichtiger als Faktenwissen. Sie sind wichtiger als Geld, wichtiger als Beziehungen und wichtiger als Intelligenz.

Vor einigen Jahren begann ich, meine eigene Sammlung mentaler Werkzeuge für ein gutes Leben zusammenzustellen. Dabei konnte ich auf einen Fundus von teilweise vergessenen Denkmodellen aus der klassischen Antike zugreifen – und auf die neuesten Erkenntnisse aus der psychologischen Forschung. Wenn Sie so wollen, handelt es sich bei diesem Buch um «klassische Lebensphilosophie für das 21. Jahrhundert».

Viele Jahre lang habe ich diese Werkzeuge tagtäglich benutzt, um die kleinen und grossen Herausforderungen, die das Leben mir stellte, zu bewältigen. Nachdem sich mein Leben in dieser Zeit in fast jeder Hinsicht verbessert hat (dass ich heute weniger dichtes Haar habe und mehr Lachfalten, hat mein Glück nicht beeinträchtigt), kann ich sie Ihnen mit gutem Gewissen ans Herz legen: 52 Denkwerkzeuge, die Ihnen ein gutes Leben zwar nicht garantieren, es aber doch deutlich wahrscheinlicher machen. (Vorwort von Rolf Dobelli)

Moors Fazit: Eines jener Bücher, das ich auf die vielzitierte einsame Insel mitnehmen würde, da es immer und immer wieder gelesen werden kann, ja muss.

16. April 2022

Tessiner Abgrund

Michael Moritz: Tessiner Abgrund,
Emons, Köln, 2015
Zwei Männer sind abgestürzt und in der Melezza ertrunken. Ein dritter ist verschwunden. Für Kommissar Bertini ist die Sache klar: Die beiden Toten sind Räuber einer Bande aus Rumänien, die auf der Flucht vom Weg abgekommen sind. Doch Journalistin Laura Leone gibt sich damit nicht zufrieden und macht sich auf die Suche nach dem dritten Mann. Sie ahnt nicht, dass sich damit ihr Leben katastrophal ändern wird. (Klappentext)

TI: Locarno, Borgnone, Camedo, Centovallibahn, Ascona I: Domodossola, Mergozzo, Verbania

Moors Fazit: Ein Krimi wird nicht besser, wenn alle 10 Seiten jemand umgelegt wird. Aus diesem Grund kann ich die Lektüre von Michael Moritzens «Tessiner Abgrund» leider nicht weiterempfehlen.

10. April 2022

Fussgang

Markus Maeder, Regula Jaeger: Fussgang,
NZZ Libro, Zürich, 2017
In Text und Bildern halten Markus Maeder und Regula Jaeger fest, was sie zu Fuss in sieben Etappen und vier Jahreszeiten erleben. Dem nörlichen Alpenkamm entlang überqueren sie auf Bergwegen und Saumpfaden rund ein Dutzend Pässe vom Zürichsee bis nach Genf. Dabei erkunden die beiden Fussgänger in beiläufigen Gesprächen und Beobachtungen am Wegrand, wie die Leute abseits der Städte ihren Alltag erleben. Eine Momentaufnahme der Schweiz, wie sie in keinem Wanderbuch steht. (Klappentext)

2. April 2022

Kühn hat zu tun

Jan Weiler: Kühn hat zu tun, Rowohlt,
Reinbek bei Hamburg, 2016
Martin Kühn ist 44, verheiratet, hat zwei Kinder und wohnt in einer Neubausiedlung nahe München. Früher stand dort eine Munitionsfabrik, aber was es damit auf sich hatte, weiss er nicht so genau. Es gibt ohnehin viel, was er nicht weiss: Warum von seinem Gehalt als Polizist ein verschwindend geringer Betrag zum Leben bleibt. Ob er sich ein Rendezvous mit seiner Nachbarin vorstellen darf. Warum er jeden Mörder zum Sprechen bewegen kann, aber sein Sohn nicht mal zwei Sätze mit ihm wechselt. Und vor allem, warum sein Kopf immer so voll ist.

Da wird hinter Kühns Garten ein alter Mann erstochen aufgefunden. Und plötzlich hat Kühn sehr viel zu tun. (Klappentext)

D: München und Umgebung