Die Führer versicherten uns, dass früher alle Jahre gegen Ende August oder Anfang September etwas Kaufmannsgüter auf Saumtieren über den Gletscher gebracht worden seien; dass aber solches in diesem Jahr wohl nicht ganz unmöglich, doch mit grosser Schwierigkeit und Gefahr verbunden sein werde wegen der vielen und grossen, erst in diesem Sommer wieder zum Vorschein gekommenen Spalten, über welche man für die Lasttiere allemal erst Brücken schlagen müsse. Diese seit den wärmeren Sommern von 1819 bis 1822 allgemein beobachtete Erscheinung, dass, besonders die nördlich in die Talgründe auslaufenden Gletscherarme bedeutend vorrücken und an ihren tiefsten Stellen, hauptsächlich in beschatteten Talgründen, an Länge, Breite und Höhe auffallend zunehmen, während dass ihre Hauptmasse auf den Höhen abnimmt und sich immer mehr zerspaltet. Diese häufige Erscheinung liefert den Beweis, dass in den wärmeren Jahren, durch jenes Abschmelzen der zusammenhaltenden Schneedecke auf dem Rücken der Gletscher und das damit verbundene Öffnen vieler Spalten, der Zusammenhang der Gletschermasse in Folge der hereingedrungenen Wärme bedeutend geschwächt, die Masse in viel lockerere Verbindung gebracht und dadurch dann eben in den Stand gesetzt wird, auf den ihr zur Unterlage dienenden, steilen Gebirgshängen viel leichter und schneller sich gegen die Talgründe hinab in Bewegung zu setzen, als bei Umhüllung mit einer starken und fest sie verbindenden Schneedecke. Ist nun der Talgrund, in welche diese grossen Gletscherarme auslaufen, von einer solchen Beschaffenheit, dass er wegen seiner nördlichen, oder sonst eingeschlossenen, weder den warmen Winden, noch dem Einfluss der Sonne geöffneten Lage, viel kälter ist, als die höheren, von der Sonne beschienenen Rücken und Abhänge der Gletscher; so kann unter diesen Umständen die häufig und schnell herab sich bewegende Eismasse, im engen, kalten Talgrund angelangt, nicht im Verhältnis dieser Anhäufung auch wieder wegschmelzen, sondern muss sich am tiefsten Punkt, wie die Erfahrung zeigt, zum Schaden der Umgebung, vermehren und ausdehnen. Hierbei leuchtet von selbst ein, dass, je höher und ausgedehnter die Gebirge sind, von denen diese Gletscherarme herabhangen, desto länger andauernd und stärker auch das Wachstum dieser letzteren sein muss, und umgekehrt. Und hierin gerade liegt der Grund, warum die Klagen über ganz neue Gletscherbildungen auf niedrigeren Teilen der Alpen während der nasskalten Jahre von 1816 bis 1818, schon nach dem ersten, recht warmen Sommer von 1819 wieder verstummten; da doch gerade zu dieser Zeit die Klagen erst anfingen über das Anwachsen der Gletscherarme, die von etwas höheren (10.000 bis 12.000 Fuss hohen) Gebirgen herabkommen, z.B. die Grindelwaldgletscher, die dann aber bald nachher, 1822, ebenfalls schon wieder abzunehmen anfingen, als das Anwachsen der grössten Gletscherausflüsse in der Umgebung des Montblanc und Rosa im höchsten Grad fühlbar wurde. Und ebenso muss noch länger andauernd als am Montblanc, das Gletscherwachsen am Rosa, besonders auf dessen Nordostseite sein, weil letzteres Gebirge auf seinen höchsten Punkten eine weit grössere Ausdehnung hat, als der Montblanc. Bei den südlich gelegenen, den warmen Winden und der Sonnenwirkung geöffneten Gletscherausflüssen ist die oben beschriebene Erscheinung lange nicht so auffallend, weil da alle Sommer die grösseren Anhäufungen von Schnee und Eis auf den Höhen weit regelmässiger wieder wegschmelzen, und weil auch die, durch stärkeres Herabdrängen vermehrte Gletschermasse im Talgrund, hier ebenfalls verhältnismässig weit schneller durch Abschmelzen sich vermindert, als an der Nordseite. Doch trifft man auch auf der Südseite der Alpen Talgründe an, in denen die Gletscher während der wärmeren Sommer von 1819 bis 1822 bedeutend mehr vorgerückt sind, als früher in den kälteren Jahren; z.B. die gewaltigen, von der Südseite des Montblanc herabhängenden, Miage- und Brenvagletscher im unteren Teil der Alleeblanche (Val de l’Allée blanche
[1]). Hier tritt aber eben im höchsten Grad der oben erwähnte Fall ein, dass der Grund dieser tiefen Talschlucht mit dem Gletscherende, von hohen und steilen Gebirgen eingeengt, beinahe immer im Schatten und im kältesten Luftstrom liegt, während der obere Teil der Gletscher, an einem steilen, südlichen Abhang, den ganzen Tag über der heissen Sonne ausgesetzt ist. Dadurch wird der Zusammenhang der Eismasse viel lockerer, und das Abwärtsdrücken derselben geht viel heftiger und schneller vonstatten, als das Wegschmelzen im engen, schattigen Talgrund. Auf diese Weise habe ich mir die sonderbare Erscheinung erklärt, dass in den wärmsten Sommern einige Gletscherausflüsse am meisten wachsen und durch ihr Vorrücken in fruchtbare Talgründe Schaden verursachen, währenddem sie auf den Höhen an Masse und Umfang bedeutend verlieren. Diese Erscheinungen zeigen sich jedoch in so auffallendem Masse nur bei Gletscherarmen, die ihren Zufluss von den höchsten Gebirgen erhalten, und deren Auslauf im engen und tiefen Tal in gar keinem Verhältnis steht mit der weit grössern Ausdehnung nach oben.
[1] Heute Val Veny.
Fortsetzung folgt