29. November 2021

Die Kellerkinder von Nivagl

Sie stehen schon seit einigen Jahren in meinem Bücherregal: «Die Kellerkinder von Nivagl». Neulich machte ich mich an die Lektüre und wollte natürlich gleich wissen, wo denn dieses Nivagl liegt. Als ich es auf der Karte lokalisierte, stockte mir kurz der Atem. An Nivagl kam ich am 27. Juli 2018, anlässlich einer Wanderung von Alvaschein nach Thusis, vorbei und hatte sogar eine Foto gemacht, auf der das Haus abgebildet ist, in dem die Autorin Jeannette Nussbaumer aufgewachsen war. Schade, habe ich das Buch nicht früher gelesen, denn dann hätte ich mir die Örtlichkeit bewusster und genauer angeschaut. So oder so: Weil ich den Gang von Alvaschein nach Thusis noch heute in sehr guter Erinnerung habe, wurde die Lektüre der «Kellerkinder» zu einem besonderen Erlebnis. Aber auch für Menschen, die die Umgebung zwischen der Lenzerheide und Tiefencastel nicht kennen, ist das Lesen dieser Lebensgeschichte ein beeindruckende Angelegenheit.

Die Häusergruppe Nivagl bei Zorten. Jeannette Nussbaumer ist im Haus links im Erdgeschoss aufgewachsen.


Während die Schweiz nach dem Zweiten Weltkrieg den Wirtschaftsboom Europas mitmacht und sich endgültig den Wohlstand sichert, lebt in einem Weiler Graubündens eine Familie mit neun Kindern (zwei weitere sterben kurz nach der Geburt) in einem feucht-kalten Kellergeschoss in bitterster Armut. Keines der Kinder hat ein eigenes Bett, die jüngeren tragen Kleider und Schuhe der älteren nach, die Kost bleibt einseitig und ungenügend, jedes Extra an Süssigkeiten und Spielzeug wird zum gemeinsamen Fest oder zum hart umkämpften Zankapfel, und ein Spitalaufenthalt bedeutet Luxusferien.

Jeannette Nussbaumer: Die Kellerkinder von
Nivagl, Friedrich Reinhardt, Basel, 1995
«Schuld» an dieser Misere ist der überforderte, von Jenischen abstammende Vater, den es in keiner regelmässigen Arbeit hält und der ausserdem das wenige Geld vertrinkt. Einzig der «Neni» als Erbauer und Mitbewohner des Hauses hält alles einigermassen zusammen, obwohl er noch wörtlich ein Fahrender ist, der sein Geschirr in den umliegenden Dörfern verkauft. Ihm hat sich besonders die Viertälteste angeschlossen, ein aufgewecktes Mädchen, das durch Schule und frühe Haushaltjobs seinen Weg macht und in diesem Buch mit spontaner Frische das Schicksal der ungewöhnlichen Familie erzählt.

Ihr Bericht gibt uns das Bild einer «anderen» Schweiz, aber nicht als soziale Anklage, sondern als menschliches Zeugnis. Und als stumme Aufforderung, unseren Konsumbedarf zu überdenken und den von materiellem Beiwerk verstellten Blick für die wirklichen Werte des Lebens zu schärfen.

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