14. August 2019

Vom Arktisreisenden zum Menschenretter

Walter Bauer: Die langen Reisen, 332 S.,
Kindler Verlag, München, 1956
«Die langen Reisen» hat der deutsch-kanadische Autor Walter Bauer seine Biografie über den Arktisforscher, Meereszoologen, Hochkommissar für Flüchtlinge und Friedensnobelpreisträger Fridtjof Nansen (1861–1930) benannt. Ich habe das Buch soeben zu Ende gelesen und war einmal mehr beeindruckt über das Leben und Wirken Fridtjof Nansens. Von seiner ersten Fahrt ins arktische Meer ist die Rede und wie nachhaltig ihn diese beeindruckt hat. Bald darauf folgte 1888 die legendäre Durchquerung Gröndlands auf Schneeschuhen (Skis). Es war die erste, die je von Menschen vollbracht wurde.

Einen grossen Stellenwert nimmt in Bauers Buch die dreijährige Polarexpedition (1893-96) ein, mit der Nansen in einem im Eis eingekeilten Schiff den Nordpol «überqueren» wollte. Der unerschrockene Norweger wollte damit aufzeigen, dass das Polareis der Meeresdrift unterworfen und es lediglich eine Frage der Zeit sei, bis seine «Fram» über den Pol drifte. Nansens Theorie schien anfänglich zu funktionieren, doch mit der Zeit ergaben die Positionsmessungen, dass sich die «Fram» wieder südwärts, also vom Pol weg bewegt. Was tun?

Nansen entschloss sich nach Rücksprache mit den Expeditionsteilnehmern, den Nordpol, zusammen mit einem weiteren Gefährten, sowie mit Schlittenhunden und Kajaks zu erreichen. Doch auch dieser Versuch misslang. Die beiden Forschungsreisenden suchten sich unter unglaublichen Strapazen und Entbehrungen einen Weg durch die endlose Eiswüste, überwinterten in einer kleinen Hütte an der Küste von Franz-Josef-Land und stiessen im Frühjahr weiter südlich auf die Mitglieder einer englischen Expedition, deren Versorgungsschiff sie schliesslich nach Spitzbergen brachte, von wo die Reise zurück nach Norwegen ging. Und die «Fram» und seine Crew? Das eigens für diese Expedition gebaute Schiff schaffte den Weg aus dem Polareis ebenfalls und gelangte fast gleichzeitig mit Nansen und seinem Begleiter im Herbst 1896 nach Norwegen. In einem zweibändigen Werk mit dem Titel «In Nacht und Eis» beschreibt Nansen das drei Jahre dauernde Abenteuer, das trotz Misserfolg glücklicherweise keine Menschenleben forderte.
Fridtjof Nansen im Alter von 36 Jahren
Dennoch wurde Nansen in ganz Norwegen wie ein Nationalheld gefeiert. Als sich in dieser Epoche auf politischer Ebene die Situation zwischen Norwegen und Schweden zuspitzte, wurde von norwegischer Seite nach einer Persönlichkeit gesucht, die in der Lage war, die Unabhängigkeit gegenüber dem dominanten Schweden, zur Sprache zu bringen und nach einer Lösung zu suchen. Schnell kam der Name Fridtjof Nansens ins Spiel. Der politisch und religiös unabhängige Forscher wurde aufgrund seiner risikofreudigen und dennoch besonnenen Art als der geeignete Diplomat angesehen. Nansen war gewillt, die Aufgabe anzugehen und brachte sie schliesslich mit Erfolg zu Ende: Norwegen erlangte, wenn auch unter gewissen Bedingungen, die Unabhängigkeit Schwedens.

Eine weitere grosse Reise, die Walter Bauer beschreibt, ist jene nach Sibirien, welche Nansen die Augen für das wirtschaftliche Potenzial dieses riesigen Landes öffnete. Aus dieser Reise resultierte das Buch «Sibirien, ein Zukunftsland». Die Gegenwart Sibiriens, ja ganz Russlands zeigte sich dann alles andere als zukunftsträchtig. Hungersnöte, der 1. Weltkrieg und die Revolution trugen zu unermesslichem Leid bei. Hinzu kamen Hundertausende von Flüchtlingen. Für den noch jungen internationale Völkerbund – Vorläufer der heutigen UNO – musste dringend etwas geschehen. Und auch in dieser Situation erinnerten sich die führenden Kräfte an den erfahrenen Nansen. Dieser wollte jedoch vorerst nichts von einem Mandat als Hoher Kommissar für
Armenische Briefmarke von 1996 mit Nansen und
der «Fram» im Hintergrund
Flüchtlinge wissen. Ein Insistieren von Seiten des Völkerbundes brachte indes den Umschwung: Nansen sagte zu und begann zu wirken. Und wie! Unzählige Reisen führten den Menschenfreund in all die Krisengebiete im Osten und Südosten Europas. Nansen organisierte Geld, Lebensmittel, Flüchtlingstransporte, medizinische Hilfe. Er setzte sich unermüdlich dafür ein, dass das Leid nicht noch grösser wurde, als es schon war. Er verhandelte sowohl mit den Russen als auch mit den USA, die dem russischen Volk mit Getreidelieferungen unter die Arme griffen. Nansen intervenierte aber auch in Armenien, als die Türken drauf und dran waren, ein halbes Volk auszurotten. Mitunter als Folge seiner Bemühungen entstand schliesslich der armenische Staat. Die Armenier haben den Einsatz Fridtjof Nansens bis zum heutigen Tag nicht vergessen.

Nansen als Hoher Kommissar für Flüchtlinge des internationalen Völkerbundes
Die Liste jener Taten und Erfindungen (Nansen-Schlitten, Nansen-Pass etc.), die der 1922 zum Friedensnobelpreisträger Ernannte vollbracht hat, könnte mühelos weitergeführt werden. An dieser Stelle sei daher die Lektüre des antiquarisch gut erhältlichen Buches von Walter Bauer all jenen empfohlen, die sich für arktische Expeditionsgeschichte, skandinavische Politik und das internationale Flüchtlingswesen in den ersten zwei Jahrzehnten der 20. Jahrhunderts interessieren. Letzteres Thema ist deshalb besonders spannend, weil es zur aktuellen Flüchtlingssituation unglaubliche Parallelen gibt. Es scheint, als hätte sich in dieser Frage in 100 Jahren Menschheits- und Politgeschichte nicht viel verändert.

In diesem Zusammenhang weise ich gerne auf eine Publikation von Fridtjof Nansen in der Edition Wanderwerk hin: «Im Eise begraben / Abenteuerlust» nennt sie sich und kann hier bestellt werden.

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