21. August 2017

Schockierend

Daniel Blatman: Die Todesmärsche 1944/45,
Rowohlt, Reinbeck, 2011
Im Winter 1944/45 lässt die SS alle Konzentrationslager evakuieren, die alliierten Truppen in die Hände zu fallen drohen. Schwache und kranke Insassen werden zurückgelassen oder getötet, alle anderen zu Fuss oder per Eisenbahn in Lager auf dem Reichsgebiet gebracht. Wer unterwegs zusammenbricht oder zu fliehen versucht, wird auf der Stelle ermordet; viele erfrieren oder verhungern. Von den über 700.000 Häftlingen, die Anfang Januar 1945 registriert sind, kommen bei den Todesmärschen mindestens 250.000 ums Leben.

Daniel Blatman stellt dieses letzte Kapitel der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik zum ersten Mal umfassend dar. Anders als zuvor spielten sich die Ereignisse nicht mehr im fernen Osteuropa ab, sondern auf deutschen Strassen und Feldern. Und die Mörder stammten nicht mehr nur aus den Reihen der SS, Polizei und Wehrmacht. Brutalisiert durch den Krieg und die NS-Propaganda, beteiligten sich nunmehr auch Zivilisten an Massakern und der erbarmungslosen Hatz auf flüchtende «Volksfeinde». So ist dieses Standardwerk auch ein erschreckendes Porträt der deutschen Gesellschaft am Ende des Zweiten Weltkriegs.
(Inhaltsangabe zum Buch)

Selten habe ich derart lange für die Lektüre eines Buches gebraucht. Nein, nicht primär der 864 in kleiner Schrift bedruckten Seiten, als vielmehr des Inhaltes wegen. Was Daniel Blatman beschreibt, ist nichts für zartbesaitete Seelen. Kaum eine Seite, auf der nicht Dutzende oder Hunderte von Menschen erschossen, niedergemetzelt, verscharrt werden. Mehr als 30 Seiten am Stück schaffte ich nicht und musste hernach eine längere Lesepause einschieben, die manchmal bis zu zwei Monaten andauerte. Dabei waren es nicht nur die fundiert recherchierten Fakten, die mich verstörten, es kamen Fragen grundsätzlicher Natur auf. Fragen über das Wesen des Menschen, seine Grausamkeit, den blinden Verstand bis hin zum Sinn des Lebens auf dieser Welt. Doch nicht genug, angesichts der Gräueltaten vor nicht allzu langer Zeit im Balkan und den seit Jahren andauernden Tragödien in Syrien, im Jemen, im Südsudan etc., ist Vorsicht geboten, dass die Beklemmung nicht überhand nimmt und in eine Depression ausmündet.

Blatmans Buch sollte meiner Meinung nach zur Pflichtlektüre für Rassisten und Rechtsextreme erklärt werden. Auf dass es auch sie erschüttern und, im Falle der Unterdrücker und Potentaten dieser Welt, zur Umkehr bewegen möge.

Daniel Blatman, geboren 1953 in Israel, ist Direktor des Avraham Harman Institute of Contemporary Jewry der Hebrew University of Jerusalem. Er hat zahlreiche Veröffentlichungen zur Geschichte der polnischen Juden und der Shoah vorgelegt. Für sein Buch über die Todesmärsche hat er zehn Jahre geforscht.

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