31. August 2025

Der Alpdruck

Hans Fallada: Der Alpdruck, Aufbau,
Berlin, 2015
April 1945: Der Krieg ist vorbei, doch nachts verfolgen den Schriftsteller Dr. Doll Träume vom Bombentrichter, der ihn nicht freigibt. Er will etwas tun gegen den Alpdruck der Mitschuld, doch er kann es niemandem recht machen als Bürgermeister einer Kleinstadt, eingesetzt von der Roten Armee. Er stiehlt sich fort und flüchtet in den Drogenrausch. Im Chaos des zerbombten, nur auf dem Schwarzmarkt funktionierenden Berlin entgleitet ihm seine junge, morphiumsüchtige Frau, und er hat um zwei Leben zu kämpfen, als er zaghaft beginnt, wieder an eine Zukunft zu glauben. Erst nachdem sich Fallada den «Alpdruck», die Geschichte des erkennbar eng aus seinem eigenen Erleben geschöpften Protagonisten Dr. Doll, von der Seele geschrieben hatte, konnte er sich der Arbeit an «Jeder stirbt für sich allein» stellen.
(Inhaltsangabe im Buch)

27. August 2025

Sind keine Seepferdchen

Karin Richner: Sind keine Seepferdchen,
Bilger, Zürich, 2006
«Wenn Anna hier wäre», heisst es gleich zu Beginn – doch wo die Schwester weilt, was mit ihr tatsächlich geschehen ist, bleibt verborgen. So taucht man ein in eine Welt, die sich trostlos und unheilvoll gebärdet, in eine Stimmung aus Kälte und Isolation und nimmt traurig berührt Anteil am scheinbar belanglosen Leben einer jungen Frau. Es sind die leisen Töne, die nüchtern-poetische Sprache, die einen Sog entwickeln, dem man sich kaum entziehen kann.

Eine Frau Anfang zwanzig gibt Einblick in die Monotonie ihres Alltags: Abends sitzt sie in einer verrauchten Kneipe und beobachtet die andern, ihr Heimweg führt sie spätnachts durch eine Grossstadt, die ausgestorben und bedrohlich wirkt, zu Hause erwartet sie eine feudale Villa, in der sie allein mit der Katze und einem Hamster lebt – die Eltern sind verreist und Anna, ihre geliebte Schwester, in Südamerika. Die laute Musik aus der Stereoanlage vertreibt die Stille im Haus, sich stets wiederholende Rituale, an denen sie krankhaft festklammert, bestimmen den Ablauf ihrer Tage.
 
Diese Ordnung bekommt Risse, als die kleine Ramona in ihr Leben tritt, das leere Haus mit Leben füllt und den Rhythmus der jungen Frau auf den Kopf stellt; sie wird brüchig, als Martina, eine Bekannte, ihre Nähe sucht und unbequeme Fragen stellt. Auch die Flucht nach draussen, in nächtliche Tanzgelage und blinden Aktivismus, zu Personen und an Orte, die sie an Anna erinnern, vermag dieses Gerüst nicht aufrecht zu halten. Wie ein Kartenhaus fällt es in sich zusammen und bringt eine erschreckende Wahrheit ans Licht.
 
Die Faszination von Karin Richners Debütroman macht seine Rätselhaftigkeit einerseits, die sprachliche Virtuosität andererseits aus. Wenig wird wirklich preisgegeben, fortwährend sieht sich der Leser gezwungen, das Erzählte auf seine Richtigkeit abzuklopfen, die Sichtweise der Protagonistin zu hinterfragen und ganz genau hinzuschauen, um das subtile Netz aus Andeutungen und Bildern, die das Ende vorwegzunehmen scheint, zu erkennen. Und gibt sich dieser Text über weite Strecken auch hoffnungslos und düster, so ist der Ausgang doch versöhnlich: Die junge Frau, die wir am Ende erleben, hat mit der Frau, die uns zu Anfang begegnet, nicht mehr viel gemeinsam. Ein trauriger Roman, der tief berührt und lange nachhallt.
(Website des Verlags)

23. August 2025

Einmal mehr der Hitze entflohen

Was gibt es schöneres, wenn du als alternder Vater einen Sohnemann weisst, der dieselbe Passion mit dir teilt: Draussen zu Fuss in der Natur unterwegs zu sein und daselbst auch zu nächtigen. Also machten wir uns, der Hitze weichend, am vorletzten Wochenende auf, um auf wenig begangener Route von Lauenen über den Stüblenipass an die Lenk zu gelangen, Zeltübernachtung auf über 2000 Metern über Normalnull inklusive. Ein lohnendes Unterfangen, wie meine optischen Eindrücke vom Samstag und vom Sonntag stellvertretend für tausend andere verdeutlichen mögen.

20. August 2025

Lebenslänglich

Guido Bachmann: Lebenslänglich, 
Lenos, Basel 1997
«Ich bin kein Schweizer.» Mit diesem Satz beginnt Guido Bachmann seinen autobiographischen Bericht. der ein Heranwachsen in der Schweiz von 1940 bis 1959 dokumentiert. Der Sohn eines Schweizer Vaters und einer italienischen Mutter beleuchtet in diesem schnörkellosen Protokoll einer Jugend die Kehrseite der kriegsverschonten Schweiz.

Schonungslos sich selbst und andern gegenüber beschreibt Guido Bachmann das Bild einer Zeit, die ihn bis heute verfolgt und deren Wunden auch die Sitzungen bei einem Psychiater nicht heilen können. Im Gegenteil, diese bestätigen, dass der Autor, indem er sich die Pubertät als trotzige Kraft der Freiheit ins Erwachsenenalter hinüberrettete und zur Triebfeder für sein Schreiben machte, instinktiv das Richtige tat.

Mit «Lebenslänglich» gibt Guido Bachmann nebst dem Einblick in seine persönliche Geschichte und einer bitteren, aber nie verbitterten Zeitkritik auch einen Schlüssel zum präziseren Verständnis seines bisherigen Werks, das in seiner Stringenz, Wortgewaltigkeit, aber auch Verletzlichkeit in der schweizerischen Nachkriegsliteratur so einsam dasteht wie zwischen den beiden Weltkriegen das Werk eines anderen, der – obwohl heimatberechtigt in Sigriswil – eigentlich kein Schweizer sein wollte: Blaise Cendrars. (Klappentext)

15. August 2025

Der letzte meiner Art

Lukas Linder: Der Letzte meiner Art,
Kein & Aber, Zürich/Berlin, 2018
Alfred ist der jüngste Nachfahre der von Ärmels, doch die glanzvollen Zeiten der Familie sind vorbei. Neben seiner umschwärmten, aber abgedrehten Mutter, seinem genialen Bruder und seinem kauzigen Vater fühlt er sich wie eine Karikatur. Trotzdem hat er es sich zur Aufgabe gemacht, seine alteingesessene Familie zu neuem Ruhm zu führen. Ein Held möchte er werden. Dazu hat er verschiedene Möglichkeiten: Er könnte, wie sein Vorbild und Namensvetter, vierzig Franzosen erschlagen, einen Gesangswettbewerb gewinnen oder zusammen mit Ruth ein Hotel aufmachen, denn ja, die Liebe siegt immer! Doch ist Alfred wirklich zum Helden geboren?

Lukas Linder schreibt mit einer solchen Genauigkeit, Schonungslosigkeit und mit viel Witz über das Alltägliche und über Familienkonstellationen, dass man zwischen den Lachern immer wieder etwas ertappt auf das eigene Leben schielt.
(Klappentext)

Dieses Buch ist in meinem Antiquariat erhältlich.

11. August 2025

Glatteis

Hans Werner Kettenbach: Glatteis,
Diogenes, Zürich, 2001
Ausgerechnet beim idyllischen Ferienhäuschen am See stürzt Erika, die attraktive Ehefrau von Tiefbauunternehmer Wallmann, zu Tode. Ein tragischer Unfall, meint die Polizei. Ein fast perfekter Mord – vermutet dagegen der Angestellte Scholten, der einige unschöne Details aus dem Eheleben der Wallmanns kennt. (Klappentext)

8. August 2025

Steter Tropfen

Eine in mehreren Jahrtausenden von der Natur geschaffene Designerbadewanne
am Fusse der Eigernordwand.

Ich weiss nicht, ob Sie schon einmal am Fusse der über 1800 Meter hohen Eiger-Nordwand entlanggewandert sind. Ich tat dies kürzlich und war begeistert. Möglich gemacht hat dies ein gewisser Adolf – nomen est omen – Gsteiger aus Grindelwald. Der heute 89-Jährige erbaute von August bis September 1997 in nur 39 Arbeitstagen den 6 Kilometer langen Eigertrail. Dieser führt von der Station Eismeer der Jungfraubahn hinab zur Station Alpiglen der Wengernalpbahn und darf getrost als einer der Premiumwege der Schweiz bezeichnet werden. Nicht weil er besonders anspruchsvoll, dafür umso beeindruckend ist. Dies scheint auch den Leuten des Bundesamtes für Topografie in Wabern bei Bern bewusst zu sein, haben sie doch den Weg auf der Landeskarte der Massstäbe 1:10.000/25.000 und 50.000 entsprechend benamst.

Für mich war indes bei der Abzweigung zur Station Alpiglen noch nicht Schluss: Ich zog weiter der Nordostflanke des Eigers entlang, bis zu den imposanten und mehrere hundert Meter hohen Felswänden der Gletscherschlucht, wo sich bis vor gut 120 Jahren der Untere Grindelwaldgletscher bis auf 1000 Meter über Meer hinabwälzte. Heute entdeckt man das mickrige Gletscherzünglein auf rund 1900 Meter und in vier Kilometern Entfernung.

Genau so, wie die von uns verursachten CO2-Emmissionen, genau so höhlt der stete Tropfen den Stein, wie ich auf meiner Route von der Station Eigergletscher hinab nach Grindelwald an einem der zahlreichen, am Eiger-Massiv entspringenden Bäche eindrücklich beobachten konnte.

Die Bildstrecke dieser Wanderung gibt es hier.

5. August 2025

Das Weihnachtsgeschenk

Ray Bradbury: Das Weihnachtsgeschenk,
Diogenes, Zürich, 2008
Weihnachten ist das Fest der Liebe und des Teilens, aber auch das Fest der Vergebung und der Erinnerung an ein Wunder, das heute noch Menschen in aller Welt rührt. Davon erzählt Ray Bradbury in seinen vier Weihnachtsgeschichten. In «Segne mich, Vater, denn ich habe gesündigt» wird Pfarrer MelIon an Heiligabend kurz vor Mitternacht mit einer Geschichte konfrontiert, die ihn Jahrzehnte zurück in seine Kindheit führt, zu einer verschneiten Weihnachtsnacht, in der sein heissgeliebter Hund zu ihm zurückfand. In «Der Wunsch» wünscht sich ein Sohn in der Weihnachtsnacht, für eine Stunde seinen verstorbenen Vater wiederzusehen, um ihm am Fest der Liebe endlich die drei Worte zu sagen, die er ihm zeitlebens nicht gesagt hat.

Natürlich darf eine von Ray Bradburys berühmtesten Geschichten nicht fehlen: Es ist das erste Mal, dass ihr kleiner Sohn in den Weltraum fliegt, ein Tag vor Weihnachten. Beim Zoll müssen die Eltern das mitgebrachte Geschenk und den kleinen Weihnachtsbaum mit den weissen Kerzen zurücklassen, doch zum Glück fällt dem Vater ein, wie er dem Jungen ein noch schöneres Geschenk machen kann. Schliesslich zeigt «Der Bettler auf der O’Connell-Brücke», dass es im Leben um mehr geht als um eine Handvoll Pennies und dass man den Geist der Heiligen Nacht auch nach dem 24. Dezember im Herzen tragen sollte. (Klappentext)