1. September 2017

Als das Auto noch eine Randerscheinung war

Otto Julius Bierbaum: Eine empfindsame
Reise im Automobil, Rütten & Loening,
Berlin, 1992. Vergriffen.
Otto Julius Bierbaum liebte Hunde, Katzen und Blumen, Horaz und Goetze, Mozart und Dürer, seine junge Frau und – Autoreisen. Im Frühling des Jahres 1902 erfüllt er sich einen Traum: Vertrauend auf acht Pferdestärken, einen Zylinder und den Schauffeur, bricht das Ehepaar Bierbaum mit einem geliehenen roten Cabrio der Marke Adler im Viertaktrhythmus zu einer gut dreimonatigen Hochzeitsreise auf.
Die dreiköpfige Reisegesellschaft in ihrem mit einem 8-PS-Motor bestückten Adler von 1901.


Am 10. April fahren sie von Berlin «durchs Tempelhofer Feld hinaus» bis Sachsen, dann via Dresden, Prag, Wien, München über die alte Brennerstrasse nach Italien. «Evviva benzina!», begrüssen die Einheimischen begeistert das ungewohnte Gefährt, aber auch Fluch und böser Blick folgen der «Teufelsmaschine». Glatte Strassen wechseln mit «pneumatikmörderischen Wegen», vor Rimini haben die Autopioniere ihre erste Panne, und sie atmen jedes Mal erleichtert auf, wenn ihr Benzin bis zur nächsten Apotheke reicht. Tankstellen waren zur damaligen Zeit praktisch inexistent.

Die Bierbaums sind bedrückt vom «nur noch melancholischen Glanz» Venedigs, sehen ergriffen von San Marino aus das Meer und den Apennin gleichzeitig, brauchen für die 96 km zwischen Faenza und Florenz zehn Stunden, klopfen – «überwältigt» von der Toskana – an die Pforte des Franz von Assisi und erliegen in Rom bei 35° Réaumur fast einem Hitzeschlag. Durch die «grandiose Öde» der Campagna gelangen sie nach Neapel, konstatieren dort enttäuscht, dass der Vesuv «weder spuckt noch raucht», laufen durch die tote Stadt Pompeji, stehen vor dem «bedenklich schiefen» Turm von Pisa und bezwingen auf ihrem Rückweg wohlbehalten die 2111 Meter des Sankt Gotthard, als eines der ersten Automobile überhaupt!


1902 überquerten die Bierbaums als eine der ersten Autofahrer den Gotthardpass.

«Reisen, ohne zu rasen» war die glückliche Devise ihrer Fahrt; ihr Fazit lautete: Das Reisen im Automobil ist das ideale Reisen! – Wie sich die Zeiten doch geändert haben …


Otto Julius Bierbaum wurde am 28. Juni 1865 in Grünberg in Niederschlesien als Sohn einer Gastwirts- und Konditorsfamilie geboren. Nach der Schulzeit am Leipziger Thomasgymnasium studierte er Jura und Philosophie in Zürich, Leipzig, München und Berlin. 1887 zog er nach München mit dem Ziel, als Schriftsteller und Journalist ein Auskommen zu finden. Zunächst wohnte er zur Untermiete in der Schwabinger Kaulbachstrasse und verdiente sein Geld mit Feuilletons und Rezensionen.

Als rühriger Literat und Herausgeber wurde Bierbaum zu einem wichtigen Vertreter der Münchner Moderne. Als 1896 die satirische Zeitschrift Simplicissmus erschien, gehörte Bierbaum zu den ersten Mitarbeitern. Nach der Hochzeit mit der Diessener Lehrerstochter Gusti Rathgeber lebte er für einige Jahre in Berlin, dann auf Schloss Englar bei Eppan in Südtirol. 1900 kehrte er zurück nach München, wo ein grosser Teil seiner Werke entstand. Zusammen mit Otto Falckenberg und Frank Wedekind wirkte Bierbaum 1901 an der ersten «Exekution» des Münchner Kabaretts «Die Elf Scharfrichter» mit. Sein 1897 erschienener autobiografischer Roman «Stilpe – Ein Roman aus der Froschperspektive» lieferte die Vorlage für die Kunstform des modernen literarischen Varietés, u.a. soll er Ernst von Wolzogen zur Gründung seines Berliner «Überbrettl» inspiriert haben. Bierbaum verfasste Liedtexte und Chansons und galt als meisterhafter Lyriker. 1901 erschien seine Gedichtsammlung «Irrgarten der Liebe». Die erste Auflage von 5000 Stück war innerhalb von wenigen Wochen vergriffen. 1906 erweiterte Bierbaum die Sammlung und veröffentlichte sie unter dem Titel «Der neubestellte Irrgarten der Liebe».

Schön geprägter Pappdeckel von Bierbaums
Neuauflage der «empfindsamen Reise im
Automobil»
Bei seinen Publikationen widmete sich Bierbaum intensiv den Fragen der Buchausstattung und Typographie. Zusammen mit Rudolf Alexander Schröder und Alfred Walter Heymel gründete er 1899 die monatlich erscheinende Kunstzeitschrift «Die Insel», eine der wegweisenden deutschen Zeitschriften der literarischen Moderne, aus der später der Insel Verlag hervorging. Seinen Mitbegründern setzte er mit dem Schlüsselroman «Prinz Kuckuck. Leben, Taten, Meinungen und Höllenfahrt eines Wollüstlings» (in drei Bänden von 1906–1908) ein nicht sehr schmeichelhaftes Denkmal. Bierbaum stellte Heymel als reichen, charakterlosen und selbstverliebten Snob dar, der sich aus purer Eitelkeit als Kunstmäzen profiliert. Der Roman erregte grosses Aufsehen und fürhte zu Anfeindungen und Prozessen.

1901 heiratete Otto Julius Bierbaum seine zweite Frau, die Florentinerin Gemma Prunetti Lotti. Zusammen reisten sie im Automobil durch Europa, vor allem nach Italien. Von seiner Begeisterung für Autoreisen erzählen die Bücher «Eine empfindsame Reise im Automobil (1903)» und «Das höllische Automobil» (1905). 1906 bezog das Ehepaar Bierbaum eine Villa in München-Pasing. Im darauf folgenden Jahr zogen sie nach Dresden.

Der Reisebericht Yankeedoodlefahrt (1909) wurde Bierbaums letztes Buch. Er starb nach langer Krankheit am 1. Februar 1910 in Dresden. Die Urne mit seiner Asche wurde nach München überführt und auf dem Waldfriedhof beigesetzt. Kurz nach seinem Tod erschien im Münchner Georg Müller Verlag eine Neuauflage seines Romans «Das schöne Mädchen von Pao» (1899) in einer nach Bierbaums Anweisungen sorgfältig gestalteten bibliophilen Prachtausgabe.

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