29. Oktober 2014

Von der Kunst, mit dem Kopf die Beine in Bewegung zu setzen

Dirk Schümer, Zu Fuss – eine kurze
Geschichte des Wanderns,
Piper
Verlag, München,  2010
«Wandern ist wie Sex», schreibt der deutsche Journalist Dirk Schümer in seinen Betrachtungen über die Kulturtechnik der Fortbewegung zu Fuss. Der zitierte Vergleich im Buch mit dem sinnigen Titel «Zu Fuss» wirft unweigerlich die Frage auf, weshalb denn die Wanderwege nicht pausenlos von dicht gedrängten Fussgängermassen bevölkert sind. Schümer bezieht sich indes weniger auf die hormonell bedingten Prozesse des zwischenmenschlichen Liebesaustausches, er liefert vielmehr eine abstrakte Definition, die den Vergleich erst plausibel macht: «Wandern erscheint als eine ganz einfache, natürliche Angelegenheit, für die man ausser etwas Zeit keine Ausrüstung benötigt.» Dass sich freilich ein ganzer Wirtschaftszweig – im vorliegenden Vergleichsfalle sind es deren zwei – mit der Herstellung von «Ausrüstung» befasst, ist hinlänglich bekannt. Der Gebrauch der Utensilien hängt erwiesenermassen mit den persönlichen Präferenzen des Sexwilligen bzw. Wanderhungrigen zusammen.

Konzentrieren wir uns nun aber auf die «kurze Geschichte des Wanderns», wie sich Schümers Werk im Untertitel nennt. In brillant und mitunter humorvoll verfassten Kapiteln wird dem Leser ein Abriss über die geherische Entwicklungsgeschichte des Menschen vermittelt. Sehr bald wird klar, wie es in dieser Hinsicht um diese Spezies bestellt ist. Bereits mit dem Übergang vom Nomadentum zur seit Jahrhunderten zelebrierten Sesshaftigkeit begann der Kampf des Homo erectus gegen jegliches Fussgängertum. Zudem verdrängte das ungeahnt stark aufkommende Automobil den flanierenden Menschen zunehmend aus den Städten. «Daher erfanden mobilitätsversessene Stadtplaner des vorigen Jahrhunderts ein eigenes Wort für die Fortbewegungsgebiete per pedes: Fussgängerzonen. In diesem irrwitzigen Begriff verbirgt sich das ganze Elend mordernen Stadtlebens: Der öffentliche Raum gehört dem Auto, das alle Widerstände, notfalls mit Gewalt verdrängen darf. Wo Autos fahren, haben alle anderen zu stehen, am besten zu verschwinden», wettert Dirk Schümer auf Seite 192 zu recht. Dennoch plädiert er fürs Stadtwandern, namentlich in Paris, Amsterdam oder der praktisch autofreien Lagunenstadt Venedig.

Überhaupt stellt «Zu Fuss» eine einzige Hommage für das Wandern als «zweckfrei schöne Beschäftigung», als «Antwort auf Langeweile» oder als «die Kunst, mit dem Kopf die Beine in Bewegung zu setzen» dar. Schümer bricht immer wieder eine Lanze für das genussvolle Gehen, ohne dass dabei viel geschehen muss. Wandern als reiner Selbstzweck eben und überdies viel gesünder als manch andere sportliche Betätigung leistungsorientierter Ausprägung. Vom «Mittelweg zwischen zivilisationsbedingter Faulheit und der nicht minder zivilisationsbedingten Hyperaktivität» ist die Rede. Dieser Weg sei ein Pfad, ein Wanderpfad, so der Autor. Und: «Wandern ist, genau betrachtet, eine Therapie gegen das Steckenbleiben im Waldsumpf. Man ist unterwegs und muss doch nicht über die Grenzen.»

Ein Kapitel widmet sich unter anderem den in den letzten Jahrzehnten arg in Mode gekommenen Themenwegen. Angefangen vom Vitaparcours – in Deutschland «Trimm-dich-Pfad» genannt – bis hin zum Märchen-, Skulpturen- oder Barfusspfad. Das Gehabe örtlicher Tourismuspromotoren sei zwar nachvollziehbar, will man sich doch auf diese Weise zusätzliche Marktanteile sichern. Dies hindert den Autor in keiner Weise daran, gewisse Auswüchse aufs Korn zu nehmen. So etwa die Holzmöblierungen entlang des Rothaarsteigs oder jene Notentafeln an einer Wanderstrecke, die kaum jemanden zu lauthalsem Nachsingen Deutscher Wanderlieder bewegen dürfte. «Ist Wandern tatsächlich ein kurzlebiger moderner Luxus? Eine Utopie, aus der niemals etwas wurde? Der Traum einiger überspannter Bürgersleute zwischen 1900 und 2000, den sich ein arbeitender Mensch inmitten von Ballungsräumen sowieso kaum mehr leisten kann und der zu nichts anderem dient, als eine Freizeitindustrie ökonomisch zu befeuern?» Auf solche und weitere Fragen gibt uns Dirk Schümer gekonnt formulierte Antworten, die nun in einer Art Bibel für Genusswanderer, Wanderskeptiker und Gehfaule den Weg an die Öffentlichkeit gefunden haben.

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