17. August 2015

Soulthorn

Urs Jaeggi: Soulthorn, Ammann, Zürich,
1990 (vergriffen)
In Soulthorn kreuzen sich zwei Motive: die Liebe eines Mannes zu einer Frau und dessen Hassliebe zu seiner Heimatstadt, aus der er schon längst entflohen ist. Der Roman erzählt die Geschichte des Kunstmalers Kocher, der mit seiner Freundin Banholzer von Berlin nach Solothurn fährt, um sich, geborgen im Wissen um ihre Liebe, seinem Herkommen auszusetzen.

Während zweier Tage durchstreifen sie die Stadt und ihre Umgebung, und in Kochers erinnerndem Erzählen wird seine Kindheit und Jugend in den dreissiger und frühen vierziger Jahren Lebendig, blitzen in den nachgezeichneten Biographien von Tante Amalie, der Weissnäherin, und ihrem Gatten Otto soziale, politische und wirtschaftliche Verhältnisse auf, gewinnt die Stadt mit ihren erinnerungsträchtigen Örtlichkeiten historische Tiefe, kündet der Jura von nie versiegender Sehnsucht, die Aare vom immergleichen Fluss der Dinge, das Museum von anderen Welten ...

Indem Kocher der Freundin sein Leben erzählt, zeichnet er das innere und äussere Porträt seiner «idyllischen» Heimatstadt, die von Fremden überflutet ist, aber dem Fremden gegenüber verschlossen bleibt. Und doch: Kocher weiss, dass er an diese Stadt gefesselt ist, dass sie ihn nicht loslässt, dass er von ihr nicht loskommt. Was sie ihm im Guten wie im Bösen angetan hat, ist Teil seiner selbst. Sein Herkommen überlebt auch in der Fremde.

Das Buch endet mit dem Nachwort eines fiktiven Herausgebers. Wir erfahren, dass Kocher und Banholzer nach ihrem zweitägigen Streifzug spurlos verschwunden sind. Was dem Nachwort vorangeht, fand sich in einem von Kocher zurückgelassenen Notizbuch. «Ich spüre beim Erzählen meinem Ich gegenüber immer eine Distanz. Ich will das Gewesene vor mir aufbauen, nicht mich drin versenken», sagt Kocher in dem Roman. Diese Distanz ist auch jene von Urs Jaeggi. Soulthorn schafft in der Distanznahme Raum für den Zweifel.

Der fiktive Rahmen des Romans, sein in Sequenzen aufgelöster Aufbau und sein sprachlicher Duktus führen dem Leser die Suche nach der Wahrheit als etwas Unsicheres und Ungesichertes vor. (Klappentext)

Besonders gut gefallen hat mir folgende Passage: «Vielleicht, Banholzer, ist Eisenbahnfahren die einzige mechanische Fortbewegungsart, die unser innerer Rhythmus gerade noch erträgt. Die wegfliegenden Häuser, Bäume und Äcker, die kleinen Erschütterungen, die Verlangsamung und der Stillstand; man kann das Vorwärtsbewegen beschleunigen, indem man auf die parallel laufenden Schienen und die den Bahndamm zierenden Gebüsche schaut, man kann aber auch den Blick am Horizont festmachen, der viel langsamer vorbeizieht. Mann kann in die Städte hineinfahren, in zersiedelte Grossstädte, wo Reihenhaussiedlungen, Fabrikanlagen und Hochspannungsmaste den nächsten Bahnhof ankündigen. Die Skyline, an der wir in Frankfurt vorbeigefahren sind, ist in Deutschland einmalig, ein Modell, dass Nachahmer finden wird, obwohl keine andere Stadt eine vergleichbare geballte Kapitalanhäufung hervorbringt.»

SO: Stadt Solothurn (Hauptschauplatz), Burgäschisee, Weissenstein, Rüttenen, St. Verena-Schlucht, Hasenmatt, Balmberg, Altreu.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen