Ich liebe sie, diese handlichen Taschenbuchausgaben im verkleinerten Postkartenformat. Entdeckt habe ich diese Aufmachung vor ein paar Jahren im Fischer Taschenbuchverlag, der mittlerweile eine stattliche Backlist führt. Aber auch andere Verlage bieten diese wanderrucksacktauglichen Bände an. Zum 40-Jahr-Jubiläum hat sich heuer der Zürcher Unionsverlag die Herausgabe einer Sonderedition im genannten Format vorgenommen. Dabei habe ich mir
den Schweizer Krimi-Klassiker schlechthin gekauft: Schlumpf Erwin Mord. Zuerst dachte ich, es handle sich um ein bislang unveröffentlichtes Werk Friedrich Glausers, lernte dann im Nachwort von Walter Obschlager, dass ich den damals als Wachtmeister Studer bekannt gewordene Roman erstanden habe.
Der 1935 fertiggestellte Krimi liest sich auch heute noch so, als wäre er 2015 geschrieben und zeitlich in den Dreissigerjahren angesiedelt worden. Glauser schreibt und beschreibt Land und Leute aus dem Bernbiet so real und realistisch, dass ich mir nicht vorstellen kann, die 1939, kurz vor dem Ausbruch des Weltkriegs erstellte Verfilmung mit Heinrich Gretler anzuschauen. Wachtmeister Studer und die restlichen Protagonisten auf Zürichdeutsch? Nach eingehender Lektüre von Schlumpf Erwin Mord, ein Ding der Unmöglichkeit. Henu, die Schweiz von damals hat den Streifen sehr wohl goutiert. Gretler war die cineastische Inkarnation Studers per se, Dialekt hin oder her.
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Anderer Titel mit demselben Inhalt wie «Schlumpf Erwin Mord». Diese Ausgabe stammt aus dem Diogenes Verlag in Zürich, 1989 |
Der Mord im Gerzensteiner Wald, wo der Handelsreisende Witschi erschossen aufgefunden worden ist, scheint ein Routinefall zu sein: Der Verdächtige, ein Vorbestrafter, der im übrigen ein Liebesverhältnis mit der Tochter des Ermordeten hat, sitzt bereits in Untersuchungshaft auf dem Schloss Thun. Sein Versuch, sich in der Zelle zu erhängen, wird von Studer, Fahnder der Berner Kantonspolizei, im letzten Moment vereitelt. Was als Schuldbekenntnis ausgelegt werden könnte, wird für Studer zum Ausgangspunkt für seinen Kampf um Schlumpf, von dessen Unschuld er überzeugt ist. In der Folge entpuppen sich bekannte und einflussreiche Dorfgrössen als nicht über alle Zweifel erhabene Gestalten, womit Glauser ein derart brisantes Thema aufgegriffen hatte, dass der Filmdreh auf mehrere Zürcher Gemeinden hat verteilt werden müssen. Es entstand eine Art kriminelles Seldwyla, ein gekünstelter Mix aus ländlichen Dorfkulissen, damit kein konkreter Ort mit den von Glauser geschaffenen Problemthemen in Verbindung gebracht werden konnte.
Selbst Glauser hat bei der Verortung von Gerzenstein einen kleinen Kunstgriff angewendet. Beim Ort handelt es sich um Münsingen im Aaretal, das der Autor von seinen Aufenthalten in der psychiatrischen Klinik bestens kannte. Um irgendwelche Verdächtigungen aus dem Weg zu räumen, siedelte Glauser Gerzenstein im Oberaargau an, was ein wenig sonderbar anmuten mag, denn die Szenen mit dem Untersuchungsrichter spielen sich jeweils im Schloss Thun ab. Dem geografisch kundigen Leser versetzt diese schriftstellerische Freiheit einen leichten Wirklichkeitsdämpfer. Aber so ist Fiktion nun mal.
PS. Die Lektüre hat mir zudem drei schöne Begriffe näher gebracht: kautelen, rigolen und ondulieren.
BE: Schloss Thun, Oberaargau, Münsingen, Inselspital Bern
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