22. August 2014

29

Ich nahm einen Schluck Kaffee, schob mir ein Kissen hinter den Rücken und las weiter.

«Die Schafe zu bewachen, komme nicht in Frage, hat er mir einmal gesagt. Zu teuer sei dies und die Tierhaltung so erst recht ein Verlustgeschäft. Das Patriziato müsse froh sein, gehe überhaupt noch jemand auf diese vermaledeiten Alpen; ebenso der Kanton, dem es ein Anliegen ist, solche Täler vor der totalen Verwilderung zu schützen. Daher sei er, Fausto, in Bellinzona vorstellig geworden. Unzählige Fotos, grausige Bilder seien es gewesen, habe er den Beamten vorgelegt. Verstreut herumliegende Schafsköpfe, die Augen von den Raben herausgepickt. Halboffene Bäuche, aufgebläht, mit hervorquellendem Gedärm. Überall Fliegen, herumkrabbelnde Ameisen und ein bestialischer Gestank, den die Fotos leider nicht wiedergaben. Eine Sekretärin habe sich im Sitzungszimmer übergeben müssen und auf den Spannteppich gekotzt. Sie seien dann ins Büro des Inspektors gegangen, um das weitere Vorgehen zu besprechen. Er könne den Wolf leider nicht zum Abschuss freigeben, sagte ihm der Jagdoberst, die Anzahl der gerissenen Schafe sei zu gering. Einen dicken Hals habe er daraufhin bekommen, erzählte mir Fausto. Wie viele massakrierte Wollknäuel es denn noch bedürfe, habe er wissen wollen. Die Fotos sprächen doch eine deutliche Sprache. Schliesslich betreibe er den ganzen Aufwand nicht, um dem Wolf das Schlaraffenland auf dem Silbertablett zu servieren. Dann könne er gerade so gut die Schafzucht an den Nagel hängen. Mit den lächerlich kleinen Bundesbeiträgen könne sowieso kein Schäfeler grosse Sprünge machen, redete sich Fausto in Rage. Er solle sich jetzt erst einmal beruhigen, habe man ihm gesagt und versprochen, die Angelegenheit mit dem zuständigen Wildhüter unter die Lupe zu nehmen. Und wegen der Subventionen, da könnten sie auch nichts dafür. Sie selber, ja, der ganze Kanton, seien in permanentem Clinch mit denen in Bern oben, er kenne die Problematik doch selber auch. Der Tessin leide bekanntlich seit den Vögten an dem Machtgefüge ennet dem Gotthard. Das sei eben ihr Los, vesuchte der Inspektor zu beschwichtigen, sie hier hätten die Sonne und die dort drüben das Sagen. Basta. Und, meinte er abschliessend, Fausto solle sich doch wenigstens über die Entschädigung für jedes getötete Schaf freuen. Einen Dreck habe ihn das gefreut, gestand mir Fausto. Die hätten doch keine Ahnung. Weder die beim Kanton, noch die in Berna. Die sowieso nicht. «Was wissen denn die Bürokraten von der Schafzucht? Ist je einmal einer dieser Beamten ins Tal gekommen und hat sich die Alpe angeschaut?», ereiferte sich Fausto nach seiner Rückkehr aus Bellinzona. «No, no, no!» Er beruhigte sich erst wieder, nachdem ich ihm drei Grappa eingeschenkt hatte.»

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen