14. August 2014

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Alle paar hundert Meter folgte nun ein Tunnel. Zweimal überspannten gemauerte Viadukte Seitenarme der Schlucht. An einigen Stellen war die Trasse zur Hälfte abgerutscht. Zahlreiche, verstreut herumliegende Gesteinsbrocken verdeutlichten die latente Steinschlaggefahr. Ich hütete mich daher, stehen zu bleiben. Am sichersten fühlte ich mich jeweils auf den Brücken. Besonders mühsam waren die verbuschten Abschnitte, wo ich mich regelrecht durchkämpfen musste. Aufgrund der extremen Topografie hatte ich keine andere Wahl, als den Dickichten die Stirn zu bieten. Ich versuchte, mir vorzustellen, mit welchem Aufwand die Linie erbaut worden war und was für ein Genuss es einst gewesen sein musste, im Zug sitzend durch die Schlucht zu reisen.
    Laramy-les-Sauts erreichte ich am späten Nachmittag. Wie tags zuvor, entlud sich ein Gewitter über dem Land und nahm mir für einmal die Lust am Campieren. Das einzige Hotel im Ort hatte noch ein Zimmer frei. Der alte Kasten mit dem nicht mehr passenden Namen Au Lion d'Or musste indes bessere Zeiten gesehen haben. Davon zeugten unter anderem der grosse Esssaal mit Kronleuchtern und halbtoten Wandspiegeln in kunstvoll geschnitzten Holzrahmen. Der Parkettboden hätte längst eine Auffrischung verdient. Das mit einem roten Teppich belegte Treppenhaus führte bis in den vierten Stock. An den Wänden hingen Schwarzweiss-Fotos aus den 20er und 30er Jahren des letzten Jahrhunderts. Sie zeigten Szenen aus dem Dorf. Auf einem Bild fuhr ein mit Blumen geschmückter Dampfzug im Bahnhof von Laramy ein. Die mit Schreibmaschine verfasste Bildlegende titelte: Arrivée du train présidial lors de la visite des sauts de Laramy en 1936. Auf einem anderen Bild sah ich dann die Wasserfälle, welche dem Ortsnamen einst den speziellen Zusatz bescherten. Auf die Sauts angesprochen, meinte die energisch wirkende Hotelbesitzerin nur: «Oh, savez-vous, depuis la mise en marche de l'usine électrique, les sauts sont morts». Die Ableitung des Wassers zur Stromgewinnung liess die berühmten Kaskaden praktisch versiegen. Fünf Jahre nach Kriegsende habe kein Hahn danach gekräht, wie es um die touristische Zukunft von Laramy bestellt sei. Es grenze daher an ein Wunder, dass der Lion d'Or, wenn auch schlecht als recht, überlebt habe, sagte Madame Tissot nicht ohne Stolz. «Savez-vous, les autres etablissements ont fermé leur portes peu après l'inauguration de l'usine», ergänzte sie.

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