23. Juli 2014

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Ratsch! Ich riss eine weitere gelesene Seite aus dem Wendehals und versorgte sie in einen wasserdichten Flachbeutel. So reduzierte sich das Gewicht meines Rucksacks; allerdings erst endgültig, nachdem mein Allerwertester das Papier noch zu spüren bekam. Dies ersparte mir den Klau von Klopapier in Restaurants und auf Campingplätzen. Ein Trick, den ich einst von Harry mitbekommen habe, ehe er mit 28 von der Sittertobelbrücke bei St. Gallen sprang. Wir sind uns fünf Jahre zuvor beim Trecken in den peruanischen Anden über den Weg gelaufen, spannten für zwei Wochen zusammen, trennten uns dann, weil ein jeder andere Reisepläne verfolgte. Wir blieben freilich in Kontakt und trafen uns ein paar Mal nach der Rückkehr in die Schweiz. Eines Tages erhielt ich die Todesanzeige. Die Trauerfeier habe im engsten Familienkreis stattgefunden, hiess es. Später fuhr ich an den Bodensee, wo Harry auf dem Friedhof eines kleinen Dorfes ruhte. Was ihn genau in den Tod getrieben hatte, konnte ich nie in Erfahrung bringen. Wie auch? Ich hatte ja nur ihn gekannt. Da war offenbar auch keine Freundin, und seine Eltern waren mir unbekannt, obschon sie mir die Anzeige zukommen liessen. Einige Male war ich drauf und dran, mich bei den Möhls zu melden, doch dann versagte jeweils mein Mut. Die Ungewissheit, wie ich mich in dieser Situation korrekterweise verhalten sollte, liess mich kapitulieren. Der Umgang mit dem Tod, wurde mir bewusst, ist schwieriger als jener mit dem Leben, selbst wenn dich das Leben zur Selbsttötung verleitet. Mich beschäftigte Harrys Tod nicht nur, weil ich den unkonventionellen Ostschweizer gut leiden mochte, sondern auch wegen der Frage, ob ich allenfalls etwas hätte beitragen können, seinen Schritt zu verhindern.

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