30. September 2014

Das Bänklibüechli-Bänkli


Dieses Rastplätzli steht kurz vor dem Fisetenpass hoch über dem Urnerboden. In einer gut gesicherten Militärgamelle befinden sich gleich mehrere Hefte, darin sich unzählige Wanderer verewigt haben. Eine gewisse Analogie zum bedeutend weiter verbreiteten Gipfelbuch ist nicht von der Hand zu weisen. Das Bänkli trägt übrigens die Bezeichnung Mättenwang- und Hinteren Hüttenblick.

Die Bänklibüechli-Bibliothek wird ergänzt durch ein Neues Testament auf Französisch!

Die Aussicht vom Bänkli über den Urnerboden hinweg zu den Jegerstöck. Die Häuseransammlung in der rechten Bildhälfte nennt sich Mättenwang.

29. September 2014

Zwischenhalt am Furkapass

Vergangene Woche waren wir mit dem Postauto an der Furka unterwegs und staunten nicht schlecht, als der Chauffeur beim Bélvèdere einen Zwischenhalt von über einer Stunde verkündete. Wir gingen raus und sogen das makellose Wetter in grandioser Landschaft richtiggehend ein (oder umgekehrt). Erschüttert war ich darüber, was vom einst stolzen Rhonegletscher noch übrig geblieben ist. Ich erinnerte mich an die Zeit, als die Gletschergrotte in wenigen Schritten von der Passstrasse aus zu besichtigen war. Mittlerweile hat sich hinter dem Besuchergebäude ein stattlicher Gletschersee gebildet. Die Gletscherzunge versteckt sich indes hinter den Felsen.

Kaum zu glauben: Das Gletscherlein oben rechts nährte einst einen Megagletscher, der  bis ins Berner Seeland reichte. Rhonegletscher am Furkapass (VS).
Zurück auf dem Parkplatz bemerkte ich, wie sich ein Murmeltier den Autos näherte. Endlich würde ich eine Nahaufnahme der putzigen Kreatur machen können und verhielt mich dementsprechend vorsichtig. Doch der Mungg verschwand katzenartig unter einem Opel. Das war's dachte ich. Weit gefehlt! Das Versteckspiel war bloss der Anfang einer grossartigen Show! Schauen Sie selber.

Der Showman vom Furkapass wohnt beim Bélvèdere (VS).


27. September 2014

Wenn der Jugend die Welt gehört

Patrick Leigh Fermor: Die Zeit der Gaben,
Fischer Taschenbuch, Frankfurt/Main,
2007
Anno 2005 ist die gebundene deutsche Ausgabe erschienen. Seit Dezember 2007 liegt die Taschenbuchausgabe vor. Die Rede ist von Patrick Leigh Fermors Reisebericht Die Zeit der Gaben. An diesem Werk scheint indes vieles aussergewöhnlich: der Ich-Erzähler, der Zeitpunkt der Reise, das Reisemittel, die bereisten Länder sowie Inhalt und Sprache. Selbst Buchtitel und Buchumschlag vermögen nicht auf den packenden Bericht schliessen, der uns Fermor nach Jahrzehnten seit seiner Reise zugänglich macht. Patrick war gerade mal 18-jährig, als er im Dezember 1933 von London nach Hoek van Holland übersetzte, um von dort zu Fuss sein Reiseziel Konstantinopel (heute Istanbul), in Angriff zu nehmen. Was danach folgt ist ein Reisebericht ersten Ranges, eine unglaubliche Fülle an Erlebnissen, Bekanntschaften, Gesehenem, Gedachtem, Rekapituliertem, Zitiertem und vielem mehr, dass man sich oft fragt, ob man mit 18 bzw. 19 Jahren eine derartige geistige und intellektuelle Reife an den Tag legen kann. Vermutlich nicht, denn die englische Originalausgabe erschien erst 1977.

Patrick Leigh Fermor nimmt uns mit in ein winterliches Mitteleuropa, das gerade die Machtergreifung Hitlers in Deutschland hinter sich hat. Der Teenager wandert nicht, um in möglichst kurzer Zeit möglichst viele Kilometer hinter sich zu bringen. In Städten wie Köln, Stuttgart, München, Wien oder Prag bleibt er längere Zeit, besucht Kunstdenkmäler und Museen, schreibt Abhandlungen über geschichtliche Zusammenhänge, über Dichter und Denker, Maler, Musiker, Könige, Barone und andere Adlige. Dank einem illustren Bekanntenkreis gelangt der Wanderer immer wieder in erlauchte Familien, wo er nächtigen kann und unzählige Geschichten erzählt bekommt, die er der Leserschaft nicht vorenthält. Freilich muss er sich auch mit einfachsten Unterkünften zufrieden geben, findet aber immer wieder gutmütige Menschen, die ihm – trotz oder gerade wegen mangelnder Sprachkenntnisse (Ungarn, Tschechien) – weiter helfen.

Im Gegensatz zu vielen Wanderreiseberichten steht bei Patrick Leigh Fermor nicht die Wanderung im Vordergrund. Diese dient vielmehr als roter Faden. Was das übrigens hervorragend ins Deutsche übersetzte Buch derart wertvoll macht, sind die oben erwähnten, kulturhistorischen Einflechtungen, der Kontakt mit Land und Leuten sowie die sprachliche Dichte. Und wer meint, auf Seite 409 in Konstatinopel gelandet zu sein, wird mit Freude zur Kenntnis nehmen, das dem nicht so ist. Hier, nämlich, endet bloss «der Reise erste Teil», im ungarischen Esztergom.

26. September 2014

Giftnapf

Paul Wittwer: Giftnapf, Nydegg Verlag,
Bern, 2008
Im Trub stirbt der erst seit kurzem ansässige Dorfarzt völlig unerwartet an einem Herzversagen. Die junge Witwe sucht dringend eine Praxisvertretung. Dr. Ben Sutter meldet sich. Der Job im Emmental soll ihm nach strengen Assistenzjahren die gewünschte Luftveränderung bringen. Schon bald aber wird er konfrontiert mit Vorkommnissen, die in krassem Gegensatz zur beschaulichen Napfwelt stehen. Unklare Todesfälle, merkwürdige Notfälle, einsilbige Patienten, wortgewandte Prediger und die verwirrend hübsche Witwe stören ihn bei seiner Praxistätigkeit. Der frühere Dorfarzt Doktor Eggimann, Mediziner, Maler und Menschenkenner, trägt mit seinen Theorien über das Unsichtbare weiter zur Verunsicherung bei.

Mit argloser Neugier erforscht Sutter alles, was ihm begegnet. Seine Entdeckungen sind mindestens so verwirrend wie die Topografie des Napfgebietes und er verliert zunehmend die Orientierung. Als er endlich den Überblick zurückzugewinnen scheint, ist es zu spät. Viel zu tief ist er in die Geheimnisse rund um den Napf vorgedrungen. Um seine Haut zu retten, bleibt ihm nur die Flucht nach vorn.
(Klappentext)

BE: Trub, Langnau, Twärengraben, Breitenboden, Schynenalp, Sältebach, Trubschachen, Goldbachgraben, Zinggengraben, Fankhausgraben, Napf, Brandöschgraben, Chlosteregg, Hämelbach, Mettlenalp, Bern

24. September 2014

Die unwahrscheinliche Pilgerreise des Harold Fry

Rachel Joyce: Die unwahrscheinliche
Pilgerreise des Harold Fry,
Fischer
Taschenbuchverlag, Frankfurt/Main,
2014
«Ich bin auf dem Weg. Du musst nur durchhalten. Ich werde Dich retten, Du wirst schon sehen. Ich werde laufen, und Du wirst leben.» (Harold Fry an Queenie Hennesy)

Harold Fry will nur kurz einen Brief einwerfen an seine frühere Kollegin Queenie Hennessy, die im Sterben liegt. Doch dann läuft er am Briefkasten vorbei und auch am Postamt, aus der Stadt hinaus und immer weiter, 87 Tage, 1000 Kilometer. Zu Fuß von Südengland bis an die schottische Grenze zu Queenies Hospiz. Eine Reise, die er jeden Tag neu beginnen muss. Für Queenie. Für seine Frau Maureen. Für seinen Sohn David. Für sich selbst. Und für uns alle.

Der preisgekrönte Roman von Rachel Joyce über Geheimnisse und lebensverändernde Momente, Tapferkeit und Betrug, Liebe und Loyalität und ein ganz unscheinbares Paar Segelschuhe. Website des Verlags

Ein wunderbar geschriebenes Buch, das zum Nachdenken anregt und trotzdem mit verstecktem Humor nicht geizt.

GB: Kingsbridge, Loddiswell, South Brent, Buckfast Abbey, Exeter, Thorveton, Tiverton, Bagley Green, Taunton, Glastonburry, Wells, Bath, Nailsworth, Stroud, Cheltenham, Stratford, Warwick, Ashby de la Zouch, Chesterfield, Sheffield, Barnsley, Wakefield, Leeds, Harrogate, Ripon, Darlington, Hexham, Cambo, Alnwick, Wooler, Berwick

Die Route als PDF.

22. September 2014

Volldampf am Berg

Diesen Sommer stieg ich zum ersten Mal auf das Brienzer Rothorn. Von Sörenberg schaffte ich den Gipfel in gut vier Stunden. Folgendes begeisterte mich, weshalb ich die Route via Rossweid–Blattenegg–Lättgässli wärmstens empfehlen kann:
  • Die mit Heidelbeeren bestückten Waldpartien im sommers einigermassen erträglichen Skigebiet.
  • Die Hochmoorabschnitte.
  • Die zunehmend umfassend werdende Aussicht Richtung Hohgant, Entlebuch und Jura.
  • Der steile Zick-Zack-Weg in der steilen Nordflanke des Brienzer Grates.
  • Die Treppe durch das imposante Couloir des Lättgässlis.
  • Die absolut umwerfende und plötzlich auftauchende Aussicht vom Brienzer Grat hinunter zum Brienzer See, hinüber zu den Oberländer 4000ern sowie entlang des schmalen Brienzer Grates bis hin ins westliche Berner Oberland.
  • Die Geologie mit ihren Verwerfungen, Schichtungen, Faltungen.
  • Die Brienzer Rothorn Bahn mit ihren schnuckeligen Dampfloks, die sich modellbahnhaft den Berg hoch arbeiten.
  • Die Aussichtsterrasse des Bergrestaurants der Brienzer Rothorn Bahn.
  • Die Aussicht vom Brienzer Rothorn in die Zentralschweiz.
Christian Lüber: Dampfbetrieb am Brünig
und Brienzer Rothorn, AS Verlag, Zürich,
2006
Die Dampfbahn hatte es mir besonders angetan. Toll auch, dass in der 08.15-Touristenumgebung im Gipfelbereich kein Schnickschnack à la Disneyland herumstand. Keine Sommerrodelbahn, keine Hängebrücke, kein künstlicher Hochseilpark, kein Funpark mit Trampolins, Planschbecken und dergleichen, keine Monstertrottis, keine Biker. Der Star ist die Bahn, das Highlight die Aussicht, die Attraktion die tollen Wanderwege. Fertig. Für meinen Geschmack völlig ausreichend und durchaus sättigend.

Der Zufall wollte es, dass ich etliche Wochen später in einer Thuner Buchhandlung ein wunderbar gestaltetes Buch über den Dampfbetrieb an Brünig und Brienzer Rothorn neuantiquarisch erstehen konnte. Allen Dampfromantikern und Liebhabern des östlichen Berner Oberlandes sei deshalb nebst der Wanderung auch dieses Werk ans Herz gelegt.

Schnauft gemächlich den Berg hoch: Dampfzug der Brienzer Rothorn Bahn

20. September 2014

43

Wie beruhigend, dass hinter dem Fin du Monde nicht fertig war. Ich stieg ab in ein Quertal, das bereits typischen Jura-Charakter aufwies. Der Gegenanstieg führte mich unter brennender Sonne auf den Spitzberg, eine mit Alpweiden bestückte Erhebung, deren Zugehörigkeit zur ersten oder zweiten Jura-Kette mir nicht ganz klar war. Ich beabsichtigte, auf dem höchsten Punkt zu campieren, weil ich mir von dort eine umfassende Fernsicht erhoffte. Beim letzten Berghof fragte ich die junge Sennerin, ob es mir gestattet sei, auf dem Gipfel zu übernachten.
    «Vous osez, Monsieur, si les bêtes ne vous dérangent pas», sagte mir die in verdreckten Gummistiefeln steckende Frau. Aus Erfahrung wusste ich, dass das Zelten auf einer Kuhweide keine gute Idee war, mir womöglich eine schlaflose Nacht und versabberte Planen bescheren würde. Ich lehnte daher dankend ab. Ich könne, wenn ich möchte, im Heu schlafen, anerbot mir die Bergbäuerin. Damit hatte ich nun nicht gerechnet. Ob denn ihr Chef nichts dagegen hätte, fragte ich sie.
    «Le chef, c'est moi!», sagte sie mit einem gewissen Stolz.


* * *


Mitteilung in eigener Sache
Die Geschichte Das Ansinnen geht nun in den vorzeitigen Winterschlaf. Wie es mit Cyrill Beck weitergeht, erfährst Du im kommenden Frühling in diesem Blog!
 

19. September 2014

Niedertracht

Jörg Maurer: Niedertracht, Fischer
Taschenbuchverlag, Frankfurt/Main,
2011
Hier trägt das Böse Tracht: Der dritte Alpenkrimi mit Kommissar Jennerwein. In der Gipfelwand hoch über einem idyllischen alpenländischen Kurort findet die Bergwacht eine Leiche. Wie kam der Mann ohne Kletterausrüstung überhaupt dort hin? Kommissar Jennerwein ermittelt mit seinem Team zwischen Höhenangst und Almrausch, während sich die Einheimischen in düsteren Vorhersagen über weitere Opfer ergehen. Was hat derweil die merkwürdige Mückenplage in Gipfelnähe zu bedeuten, warum besitzt ein grantiger Imker auf einmal viel Geld, und wieso hilft ein Mafioso, ein Kind aus Bergnot zu retten? Jennerwein hat einen steilen Weg vor sich … (Klappentext)

D: Garmisch-Partenkirchen und Umgebung, Hupfleitenjoch, Schneefernerscharte, Zugspitze, Partnachklamm, Grasberg (Hauptschauplätze), Bordesholm (Nebenschauplatz) A: Zirler Berg I: Cefalù (Sizilien)

18. September 2014

42

Nach der Ansprache schickte der Cheftrainer die Kicker zurück auf das Spielfeld. Seine Assistenten wies er an, Signalisationshüte in einem bestimmten Abstand zueinander aufzustellen. Ich begab mich zum Fernsehteam und linste auf das Display der Kamera. Es zeigte drei junge Musliminnen, die der Kameramann vom anderen Spielfeldrand herangezoomt hatte. Alle drei trugen sie Kopftücher und hielten ein Spruchband in Arabischer Schrift in die Höhe.
    «Excuse me, can you tell me, what this means», fragte ich den Fernsehmann und deutete mit dem Zeigefinger auf seine Einstellung.
    «Sie chönd scho Schwiizerdütsch rede", antwortete er. «Das isch Arabisch und haisst Ya Muhammad, hal yumkin an tu'tina trikutak?»
    «Oh, Sie sprechen Arabisch», stellte ich anerkennend fest.
    «Scho sicher. Mini Eltere chömmed vo det une und sind vor über driisg Joohr i d Schwiiz iigwanderet. Dihäi hämmer halt immer Arabisch gredet.»
     «Und nun arbeiten Sie für das Schweizer Fernsehen.»
     «Wo dänket Sie hii! Ich schaffe für en arabische Privatsänder. Als einzige Kameramaa i de Schwiiz. Gäile Tschobb, chan ich Ihne säge. Lauft jo fascht nüüt bin öis. Do müend scho d Schüütteler vo den Emirat choge träniere, dänn flippets deet une komplett uus, we mier das im Sportkanal bringed.»
    «Interessant, interessant», gab ich mich interessiert.
    «Gälled Sie.»
    «Ach, und was heisst jetzt dieses Muhammad, hal yumkin an tu'tina trikutak? auf Deutsch?»
    «Mohammed, dörfed mir dis Tricot ha?»

16. September 2014

41

Später gelangte ich zu einem Sportplatz mit dem seltsamen Namen Fin du Monde und wurde Zeuge skurriler Szenen. Auf dem Rasen trainierte eine Fussballmannschaft. Ihr Trainer brüllte den Spielern in unverständlichen Lauten Anweisungen zu. Dabei gestikulierte er wild rudernd mit beiden Armen. Ein Fernseh-Team filmte vom Spielfeldrand, und ein kleines Rudel Fotojournalisten hielt seine monströsen Teleobjektive im Anschlag. Ich sass auf einer Bank und schaute dem offenbar wichtigen Treiben zu. Nach einer Weile schoben sich zwei betagte Frauen ins Bild. Sie kamen auf der Leichtathletikbahn, die das Fussballfeld umgab, mit Rollatoren daher. Als die Damen auf meiner Höhe waren, sprach ich sie an. Ob sie vielleicht wüssten, welche Mannschaft hier am Trainieren sei, fragte ich.
     «Mais Monsieur, vous ne le savez pas? C'est l'équipe nationale des Émirats arabes unis!», sagte mir die kleinere der beiden.
    «On en parle depuis des jours déjà,» schob die grössere nach.
    Ach du heiliger Bimbam, dachte ich. Die Nationalmannschaft der Vereinigten Arabischen Emirate trainiert in der Schweiz. Ausgerechnet am «Ende der Welt». Ich bedankte mich für die kompetente Antwort und begab mich an den Spielfeldrand, wo der Trainer seine Mannschaft gerade erst um sich gescharrt hatte. 
     «Al chued hem bala, sai moham nassa! Nassa, nassa, nassa! Muhamar, ham sa sala ham chued lem hem mem cham asser. Abdel, tu el ned Nasser balabala ham blabla blabla cham said! Sidi, nada hem stop hem balabala chued duech lama el hama. Allah, wadi lasser chom hued, chom gued. Inschallah!»
    So oder ähnlich instruierte der in einen Al Fatah-Fetzen gehüllte Kopf die verschwitzten Mannen mit messianischem Eifer, derweil die Canons und Nikons der Presseleute im Maschinengewehr-Modus ratterten .

15. September 2014

Rehabilitation für das Glarnerland

Löste Klarheit im Statistiksalat der Glarner
Wanderwege aus: die falschen Angaben im
VCS Magazin vom Juli 2014.
Die Ausgabe Nummer 3 des VCS Magazins vom Juli 2014 widmete sich unter anderem dem Thema der zunehmenden Verteerung von Wanderwegen. Ein leidiges Thema fürwahr und schon fast die Gründung einer politischen Partei wert. AAP hiesse die dann: Anti Asphalt Partei oder PCG auf Französisch. Partie contre le Goudronnage. Der Autor Peter Krebs lieferte in seinem Artikel grundsätzlich nichts Neues, was ein rechtschaffener Wanderer bereits schon lange weiss. Beim Studium der Infografik, die aufzeigte, welche Kantone am meisten bzw. am wenigsten Hartbelag in ihrem Wanderwegnetz aufweisen, stutzte ich jedoch. An erster Stelle lagen die Urner mit 8,4 Prozent, gefolgt von den Wallisern (12,9) sowie den Bündnern und Tessinern (beide 14,0). Am Ende dieses zunehmend trostloser werdenen Ratings lag der Kanton Glarus, mit sagenhaften 61,1 Prozent noch hinter den Genfern.

Das kann doch nicht sein! Da stimmt etwas nicht, dachte ich, nachdem ich kurz das ganze Glarner Wanderwegnetz innerlich durchgescant hatte. Unmöglich! Nach meiner Erfahrung gehörte der Kanton Glarus unter die ersten drei, denn wo, bitte schön, soll denn all der Asphalt sein im schönen Glarnerland, wo bloss, wo? Ausgerechnet in jenem Kanton, der selbst im Talboden noch schöne alte Wegpassagen mit beidseitigen Trockensteinmauern, sogenannten Alpgassen, aufweist und diese auch noch pflegt. Im selben Talgrund verläuft zudem ein alter Pfad, er nennt sich Landesfussweg und besteht in erster Linie aus Naturbelag. Von all den vielen naturbelassenen Alpwegen und hochalpinen Pfaden wollen wir gar nicht erst sprechen!

Henu, ich sagte mir, wenn es tatsächlich ein Fehler ist, wird sich schon jemand aus dem betroffenen Gebiet bemerkbar machen und dies richtigstellen lassen. (Falsche Haltung, ich weiss, ich weiss.) Und so las ich nun mit Freude in der aktuellen Ausgabe des VCS Magazins das fällige Korrigendum. Es meldete sich der Präsident der Glarner Wanderwege, Fritz Marti. «Diese Fehlinformation ist nicht Ihre [Redaktion des VCS Magazins] Schuld und auch nicht jene der Schweizer Wanderwege, die Ihnen die entsprechenden Zahlen lieferte. Wir haben diese falsche Zahl bei der Gründung der Glarner Wanderwege übernommen und den Irrtum nicht bemerkt», schrieb Marti.

Ja, heiliger Bimbam. Das gibt's doch gar nicht! Just jene Organisation, die an vorderster Front gegen die Verteerung von Wanderwegen ankämpft, vernachlässigt eine ihrer wichtigsten Kennzahlen und mit ihr die nationale Zentrale ebenso. Ich war baff und bin froh, dass die Sache nun über den Umweg des Verkehrsclubs der Schweiz eine gute Wendung genommen hat. Die Glarner figurieren nun mit einem Anteil von 12,1 Prozent Hartbelag an zweiter Stelle.

Kurz vor Ennenda (GL) verläuft dieser wunderbar erhaltene Fussweg in leicht erhöhter Tallage. Eine Wegstruktur, wie sie für den Kanton Glarus nicht untypisch ist.


14. September 2014

40

Ein Dutzend Meter vor mir huschte eine Ratte über die Strasse. In Büschen und Bäumen stimmten die Vögel ihren Morgengesang an. Im Nu langte ich in der Vorstadt an, wo der Anstieg insJuragebirge wartete. An Kalksteinfelsen vorbei stieg ich zu einem Pavillon hoch. Unter mir breiteten sich der spiegelglatte See und die erwachende Stadt aus. Am Horizont erhob sich die Alpensilhouette in den Morgenrothimmel. Ehe ich mich anschickte, den beliebten Aussichtspunt zu verlassen, erschreckte ich eine Nordic Walkerin bei ihren Tai Chi Übungen. Ich grüsste und schob eine Entschuldigung nach, doch die Frau reagierte nicht. Erst jetzt sah ich, dass sie die Ohren mit Kopfhörern zugestopft hatte. Was hört man zu Tai Chi für Musik, fragte ich mich, ausgerechnet jetzt, wo die Vöglein so artig trällerten. Für James Lasts Morgens um sieben ist die Welt noch in Ordnung war es zu früh. Ich stieg weiter bergan, währenddem der Stadtlärrm sich vom Pianissimo zum Piano steigerte.
    In weiten Kehren gelangte ich auf den ersten Jurarücken. Und noch bevor die Sonne mich beschien, geriet ich arg ins Schwitzen. Der voll bepackte Rucksack drückte schwer. Diese Freiheit hatte also auch ihren Preis, ja sie lastete buchstäblich auf meinen Schultern. Ich hoffte, dass sich mein Körper an das Gewicht gewöhnen würde. Auf der Terrasse einer Sportschule hielt ich Rast. Der Blick über das Schweizer Mittelland hin zu den Alpen war umwerfend. Über der Hauptstadt hingen ein paar Heissluftballone. Der Stadtlärm war inzwischen trippelnden Turnschuhen gewichen. Eine muskelbepackte Männergruppe täppelte über die Terrasse und verschwand hinter der Gebäudeecke.

13. September 2014

Muggensturm, Hühnerstall und Pooalp

Werner Bucher, Jolanda Fäh:
Urwaldhus, Tierhag, Ochsenhütte & Co. –
Die schönsten Ostschweizer Beizen
und die (Wander-) Wege zu ihnen,
orte-Verlag, Oberegg, 330 Seiten,
6. ergänzte und aktualisierte Auflage, 2009


Sie sind Horte des temporären Glücks, Oasen der Gemütlichkeit, Schauplatzgeber für Kriminalromane und begehrenswerte Wanderziele: die Wirtschaften und Wirtschäftchen, die Beizen und Besenbeizen, die Gasthöfe und Restaurants ausserhalb der Ballungszentren. Der im appenzellischen Oberegg beheimatete orte Verlag hat unter der Ägide des Verleger-Schriftstellers Werner Bucher und – nomen est omen – seines Zeichens damals selber Wirt, vor Jahren einen Beizenführer publiziert, der soeben in einer 6., aktualisierten und ergänzten Auflage erschienen ist. Geografisch beschränkt sich das als wahre Fundgrube zu bezeichnende Werk auf die Ostschweiz.

103 Beizen sind im Detail beschrieben, weitere 136 sind namentlich erwähnt und mit mehr oder weniger Informationen versehen. Unter den insgesamt 239 Etablissements befinden sich ein paar wenige, welche in den vergangenen Jahren leider das Zeitliche segnen mussten. Die Texte sind jedoch belassen worden. «Aus Gründen der Nostalgie», wie Werner Bucher, Jolanda Fäh und weitere am Führer beteiligte Autoren vermerken. Wer nun meint, mit diesem Buch das ultimative In-Lokal im Sinne eines zum «Red Devil’s Pub» umfunktionierten Bären irgendwo draussen auf dem Lande zu entdecken, wird arg enttäuscht. «Schickimicki wird stets links liegen gelassen», ist nicht nur im Vorwort zu lesen, der nachfolgende Inhalt bestätigt diese kompromisslose Haltung Seite für Seite. Von kuriosen Geschichten und Anekdötchen rund um die Wirtshäuser ist die Rede. Von legendären Beizern, umwerfenden Spezialitäten, kreativen Köchen, verschrobenen und verstorbenen Wirtinnen sowie von landschaftlichen Glanzlichtern. Das Buch langweilt nicht mit endlosen Zahlen, Fakten und Bewertungssternchen, das Buch erzählt vielmehr vom Reiz der Beiz, von der mit Patina reich befrachteten Gaststube, der exquisiten Lage, die oft nur zu Fuss erreicht werden kann. Manchmal wundert sich der Leser über sonderbare Öffnungszeiten, originelle Gastgeber, wie etwa den «Chapf-Köbi» von der Bergwirtschaft «Zum Chapf» bei Urnäsch. Oder man schmunzelt über bauliche Raffinessen, wie den von einem Mühlerad angetriebenen Grill in der Wirtschaft «Guhwilmühle» im zürcherischen Hofstetten ob Elgg. Alleine die kuriosen Namen gewisser Restaurants machen neugierig: Muggensturm, Hühnerstall, Biene, Pooalp, Roter Öpfel, Schwämmli etc. So erfährt man unter anderem auch, dass das Berggasthaus Lavadarsch oberhalb Azmoos rein gar nichts mit dem Allerwertesten gemein hat.

Der Führer ist in verschiedene Regionen gegliedert. Jede Region wird in einem einleitenden Kapitel mit stimmigen Sätzen kurz und knapp charakterisiert. Etwas gar rudimentär skizzierte Krokis sollen helfen, die Ziele der Gelüste ein wenig besser finden zu können. Dass die Welt östlich und nördlich und südlich von Winterthur nicht aufhört, sei mit «Urwaldhus, Tierhag, Ochsenhütte & Co.» einmal mehr auf beeindruckende Weise bewiesen.

12. September 2014

39

Henri Metzger stieg in seinen Weinkeller, wo er sich einen Gewürztraminer holte. Zusammen mit dem Französisch-Deutsch/Deutsch-Französisch Wörterbuch, das ihm zur Not helfen würde, richtete sich der Polizist auf der Veranda seines Hauses bequem ein und begann, in Cyrill Becks Notizbuch zu lesen, das gestern von der Post geliefert wurde. Bevor er sich ans Übersetzen machte, wollte er sich den ganzen Text vor Augen führen. Auch, um sich an die unleserliche Schrift zu gewöhnen.

Das Ansinnen

Endlich die Stadt verlassen zu können, bereitete mir im ersten Moment mehr Freude, als die Tatsache, dass die Reise begonnen hatte. Die Strassen waren menschenleer. Einzig das Auto eines Zeitungsverträgers ruckelte von Briefkasten zu Briefkasten. In Bädern und Küchen der Frühaufsteher und Morgenstundler brannte schon Licht. Ich war froh, nicht mehr zu jenen zu gehören, die auf den ersten Zug gingen oder mit dem Hund eine Runde ums Geviert drehten, um hernach rechtzeitig zur Arbeit zu erscheinen. Kein Zug und kein Büro. Hund hatte ich nie gehabt, obschon ich ein paar Wochen vor meinem Aufbruch an die Mitnahme eines Hundes dachte, den Gedanken dann aus verschiedenen Gründen wieder verwarf.

11. September 2014

Kein Zurück für Sophie W.

Katharina Zimmermann: Kein Zurück für
Sophie W.,
Zytglogge, Oberhofen, 2000
Weil sie eine moralische Verfehlung begangen hat, muss Sophie ihr geliebtes Dorf im Berner Oberland verlassen. In Amerika versucht sie, fernab ihres geschiedenen Mannes und ihrer Kinder, eine neue Existenz aufzubauen. Sie heiratet erneut, vermisst jedoch die Geborgenheit ihrer Heimat. Eines Tages schickt ihr erster Mann die gemeinsame Tochter Karoline nach Amerika, weil sie ein uneheliches Kind erwartet. Eindrückliches Porträt einer Frau zwischen zwei Welten. Ein auf Tatsachen beruhendes Leseerlebnis, das berührt.

BE: Aeschi, Brienz, Spiez, Thuner Westamt USA: Verschiedene Orte

10. September 2014

38

Was tun? Bayard war unschlüssig. Da keine offizielle Vermisstenmeldung vorlag, sah er sich nicht zum Handeln veranlasst. Der Fall, sofern es denn einer war, beschäftigte ihn trotzdem. Mehr privat als dienstlich, war er doch selber passionierter Begeher von Weitwanderstrecken, der sogenannten Grandes randonées, wie sie in Frankreich genannt wurden. Und da waren ja noch die Reiseutensilien des Schweizers. Auf der Strassenkarte entdeckte Bayard einen feinen Bleistiftstrich, offenbar die Wanderroute. Beim Notizbuch musste er passen. Eine schwer lesbare Schrift und erst noch in Deutsch. Der Polizist beschloss, sich dem Inhalt der Kritzeleien anzunehmen. Vielleicht lag hier der Schlüssel zum weiteren Verbleib von Cyrill Beck. Aus der Ausbildungszeit zum Polizeimann ist ihm ein Elsässer Kollege in Erinnerung geblieben, den er zwar schon lange nicht mehr kontaktiert hatte, der aber ziemlich sicher immer noch am selben Ort Dienst tat.
    Henri Metzger, Hauptwachtmeister in Blotzhouse, war sofort bereit, die Übersetzungsarbeit zu übernehmen. Er, Bayard, solle ihm Notizen und Karte nur senden, mit der Post und ja nicht per Dienstkurrier. An seine Privatadresse, hatte Metzger noch nachgeschoben. Es gehe um die strikte Trennung von Dienstlichem und Privatem. Erst kürzlich wurde einer seiner Kollegen gefeuert, weil er es mit dem Polizeigeheimnis nicht so genau genommen hatte. Auf so einen Skandal könne er gerne verzichten. Bayard hatte Verständnis, auch wenn man es in seinem Distrikt etwas lockerer anging, was die Unterscheidung zwischen polizeilichen und dienstlichen Angelegenheiten betraf.

9. September 2014

Die Schnecke auf der Kirchturmspitze

Dies ist seit 1930 das Wappen
der Gemeinde Zell (ZH).
Kürzlich war ich in der Tösstaler Gemeinde Zell unterwegs. Vor etlicher Zeit bloggte ich über Zells Wappen. Es zeigt eine Weinbergschnecke, die in der helvetischen Heraldik eine Art Monopolstellung inne hat: Kein anderes Schweizer Gemeindewappen weist eine Schnecke auf. Mein Gang durch den Ort verdeutlichte, dass die Zeller einen gewissen Schneckenstolz besitzen. Ein Blick in die Gärten und Hauseingänge genügt, um zu diesem Schluss zu kommen. Schnecken unterschiedlichster Formen und aus allen möglichen Materialien präsentierten sich mir. Grosse, kleine, lustige und ernste. Gekachelte, bemalte, verzierte, polierte. Und wo auf Schweizer Kirchtürmen normalerweise der Hahn oder das Kreuz prangt, blickt in Zell eine Weinbergschnecke über das Dorf hinweg.

Auch die Bänkli auf Zeller Gemeindegebiet haben eine Schnecke aufgedruckt erhalten. Eine hübsche Aufforderung, die Rast der Hast vorzuziehen.

Neben den Zeller Hauseingängen lachen den Passanten kunstvoll gezimmerte Schnecken an.

Auf der Zeller Kirchturmspitze hat die Schnecke gar den Hahn verdrängt.

8. September 2014

37

Der französischen Polizei war Cyrill Beck nicht bekannt. Das Nachfragen bei den Schweizer Kollegen zeitigte ebenfalls keine Resultate. Beck war weder registriert noch als vermisst gemeldet. Der mit dem Fall betraute Polizeiwachtmeister im kleinen Laramy-les-Sauts traute der Sache nicht und begab sich in den Lion d'Or, wo er Näheres über den Absender des retournierten Paketes zu erfahren hoffte. Jean Bayard liess sich den Inhalt zeigen und nahm ihn mit in sein kleines Büro. Hier kramte er aus einer Schublade Cyrill Becks Meldezettel und legte ihn in zu den anderen Artefakten. Er startete den Computer auf, meldete sich mit Benutzernamen und Passwort an, ehe er das Programm mit den Tagesjournalen öffnete.
   Am 10. Juli, dem Abreisetag Cyrill Becks, waren seine Kollegen unter anderem in Laramy auf Patrouille. Contrôle d'un jeune randonneur suisse. Négatif, las Bayard. Das könnte er gewesen sein, dachte er und rief seinen Kollegen Mangeat an. Dieser erinnerte sich an den Wanderer in der rue de la Gare und dass er ihm verboten hatte, die alte Bahnstrecke zu begehen. 
    «Mince», sagte Bayard. «Es könnte sein, dass unser Schweizer trotzdem gegangen ist.»
    «Was willst du damit sagen?», wollte Mangeat wissen.
    «Mon cher collègue, befeuere deine Hirnzellen mit etwas Grüze! Wenn er versucht hat, die Schlucht zu durchqueren und den Mut nicht aufbrachte, im richtigen Moment umzukehren, dann ahne ich Schlimmes.»
    «Mais alors», wir hatten doch seit längerem keinen Vorfall mehr da unten», folgerte Mangeat.
    «Wenn sich einer in diesem Gelände das Genick bricht und niemand vermisst ihn, dann erhalten wir erstens weder einen Notruf, noch kann er sich selber aus der Bredouille befreien. Mit anderen Worten, lieber Mangeat, der Schweizer liegt mit grosser Wahrscheinlichkeit in dieser verdammten Schlucht, sofern ihn die Füchse nicht schon längst …, aber lassen wir das.»

7. September 2014

Der Handkuss des Augenfalters

Peter F. Keller: Der Handkuss des
Augenfalters, Pendo, München, 2009,
vergriffen
Hans Heinrich Hosang versteht die Welt nicht mehr. Bei einer Bergwanderung am Schweizer Aletschgletscher findet der überzeugte Eigenbrötler einen mysteriösen Stein von der Form eines Dohleneis, der sein Weltbild vollkommen auf den Kopf stellt. Als kurze Zeit später nur wenige Schritte von diesem unerklärlichen Rätsel entfernt die Betreiberin der nahe gelegenen Berghütte tot aufgefunden wird, verbreitet sich Unruhe in der eingeschworenen kleinen Berggemeinde.

Was hat Hosangs merkwürdige Entdeckung mit der Leiche zu tun? War es wirklich Selbstmord, wie die Dorfbewohner glauben? Und was hat die dubiose Nonne mit ihrem Laptop in den Bergen zu suchen? Hosang weiss nur: Die Wissenschaftler werden das Naturrätsel um das Dohlenei nicht lösen. Denn es liegt verborgen in der Vergangenheit des Dorfes, und die möchten ein paar Einheimische um jeden Preis totschweigen, im wahrsten Sinne des Wortes. (Klappentext)

AG: Kloster Fahr, Autobahnraststätte Würenlos BE: Lötschbergtunnel (NEAT) VS: Lötschbergtunnel (NEAT), Riederalp, Märjelensee, Tälligrattunnel, Fiescheralp, Bettmergrat, Aletschgletscher, Spital Brig, Bahnhofbuffet Brig, Strahlhorn ZH: Bahnhofhalle Zürich HB F: Paris (Louvre)

6. September 2014

36

Antoinette Tissot staunte nicht schlecht, als sie ein Postpaket aus der Schweiz erhielt. Neben der Etikette mit der Postlagerndadresse von Cyrill Beck klebte ein Vermerk, dass das Paket nicht abgeholt wurde. Cyrill Beck? Dieser Name sagte Madame Tissot nichts. Das musste vermutlich ein Hotelgast gewesen sein. Sie ging die Meldescheine durch und wurde fündig. Der Gesuchte war vor über drei Monaten im Lion d'Or abgestiegen. Sie konnte sich aber nicht mehr an das Gesicht erinnern. Und Schweizer beherbergte sie immer wieder einmal. Vielleicht würde der Inhalt des Päckchens einen Aufschluss über den Absender hergeben. Nebst einer Strassenkarte fand die Hoteliere ein vollgeschriebenes Notizbuch, einen eiförmigen Stein sowie ein Buch vor. Nun dämmerte es ihr. Das war doch der Randonneur, der ans Meer wollte! Der Mann müsste doch längst wieder zu Hause angekommen sein, dachte sie, hob den Telefonhörer ab und betätigte die Kurzwahltaste mit der Aufschrift POL.

4. September 2014

Der Bettelwanderer

Andreas Altmann: 34 Tage/33 Nächte,
Von Paris nach Berlin zu Fuss und ohne
Geld, Frederking & Thaler, München,
2004, neu aufgelegt bei Piper, München
Betteln hat immer etwas Zwiespältiges. Als Schnorrer offenbare ich mich als ein menschliches Exemplar der minderen Sorte, als Angebettelter weiss ich nie so recht, ob ich Mitleid haben und etwas geben soll, oder ob ich doch nicht einem Lügner aufsitze und mich übers Ohr hauen lasse. Besonders heikel wird es, wenn einer die Bettelei im Sinne eines Projektes ausführt, nur um zu sehen, wie die Menschen reagieren, und, wir ahnen es, darüber ein Buch zu schreiben. Nun, Andreas Altmann, um den es hier geht, hat sich zusätzlich das Ziel gesteckt, von Paris nach Berlin ausschliesslich zu Fuss zu gehen, was die Sache zwar sympathischer macht, aber nicht unbedingt sympathisch genug. Unklar ist jedoch, wen die grössere Schuld an diesem sehr süffig und mit viel Ironie geschriebenem Reisebericht trifft: Den Verlag, der Altmann vertraglich an sich gebunden hat, oder den Autor selber, der sich auf ein derartiges Abenteuer einlässt?

So lernt man zwar während der Lektüre unzählige spendable und geizige Franzosen, Luxemburger, Wessis und Ossis kennen, aber das zwiespältige Gefühl dieser Unternehmung wird man nicht los, denn unser Protagonist muss zwangsläufig jeden, den er anpumpt anlügen, um überhaupt an etwas Ess,- Trink- oder, im wahrsten Sinne des Wortes, Bares zu kommen. Für einmal stimmt die Weisheit «Lügen haben kurze Beine» nicht, ganz im Gegenteil, denn wer würde einem Bettler etwas spendieren, der erklärt, dass ihn ein Verleger dafür bezahlt, zu Fuss und ohne Geld über 1200 Kilometer durch Mitteleuropa zu wandern und darüber zu berichten?

Bei allem Hinterfragen und Zweifeln sei bemerkt, dass die körperliche und mentale Leistung des Autors nicht zu unterschätzen ist, denn oftmals hungernd und nur mit dem bisschen erbettelten Geld meist auf asphaltierten Strassen mit mehr oder weniger gefährlichem Verkehr zu gehen, ist nicht ohne. Hinzu kommen ungemütliche Biwaknächte an allen möglichen und unmöglichen Orten, von den Obdachlosenheimen in grösseren Ortschaften nicht zu sprechen. Besonders erwähnenswert ist, dass Altmann, der das Abenteuer 2003 unter die Füsse nahm, mit keinem Wort über irgendwelche Handytelefonate berichtet, vielmehr nimmt er sich die Mühe, an kostenlosen Internetzugängen seinen elektronischen Briefkasten zu leeren und auch mal seiner Freundin ein Lebenszeichen zukommen zu lassen.

Was indes wiederum zu denken gibt sind Altmanns Hosen. Betrachtet man die Farbfotos in der Buchmitte genauer, so fällt auf, dass unser Bettelwanderer stets saubere und kaum abgewetzte Hosen trägt. Kann das sein? Einer, der durch den Wald geht, am Strassenrand und bei Regen unterwegs ist, kriegt doch auch mal eine Portion Dreck ab. Von seiner Ankunft in Berlin schreibt Altmann, dass er mehrmals auf seine übel riechende Ausdünstung angesprochen wird, so zum Beispiel von einem Schaffner an einer Tramhaltestelle: «Halten Sie Abstand, Sie verpesten ja die Gegend!» Wie kann da jemand noch saubere Hosen haben?

3. September 2014

35

Blauer Himmel über Laramy-les-Sauts. Vom Bach stiegen Nebelschwaden auf. Madame Tissot hatte nichts dagegen, dass ich mir den Thürknauf aneignete. Ich ging zur Post, wo ich nebst dem Buch anderen Kleinkram nach Hause spedierte. In einem kleinen Lebensmittelladen stockte ich meine Vorräte auf. Ich rechnete damit, die kommende Nacht in der Schlucht zu verbringen. Auf dem Weg zum Bahnhof überholte mich ein Polizeiauto, das unvermittelt stoppte. Zwei Flics stiegen aus und machten sich auf dem Trottoir breit. Sie wollten meine Papiere sehen. Ich streckte ihnen die Identitätskarte entgegen. Einer der beiden verschwand im Auto, wo er sich einen Telefonhörer ans Ohr drückte und vermutlich der Zentrale meine Personalien durchbuchstabierte. Derweil befragte mich der andere nach meinem Wohin. Ich beging den Fehler, ihm von der alten Bahnlinie zu erzählen, die es mir angetan hatte. Die Begehung der Strecke, sagte er unmissverständlich, solle ich tunlichst unterlassen. «Il est strictement inderdit de passer les gorges par la trassée», liess er mich jedes Wort betonend wissen.
    «Pourquoi?»
    «Il est trop dangereux pour vous, Monsieur, vous comprenez.»
    Ich begriff und wusste im selben Moment, dass ich trotzdem gehen würde. Die Überprüfung meiner Person hatte nichts ergeben. Ich bedankte mich höflich für die Gefahrenwarnung. Der Peugeot machte rechtsumkehrt und fuhr davon. Ich ging fünfzig Schritte hinterher und als sie mich nicht mehr sehen konnten, trabte ich erneut dem Bahnhof und somit dem Abenteuer entgegen. Dort, wo die ehemalige Bahnlinie ihre Fortsetzung nahm dann die schriftliche Bestätigung der polizeilichen Warnung: Passage interdit. Danger de mort. Ohne zu zögern liess ich das Schild hinter mir.

1. September 2014

34

Als ich oben ankam, war ich dann doch zu müde, die Lektüre fortzusetzen. Einzig die auf der Umschlagklappe abgedruckte Kurzbiografie des Autors schaffte ich noch.

    Geboren 1960 in St. Gallen/Schweiz als Sohn eines in Vergessenheit geratenen Schriftstellers aus Preussen. Die Mutter entstammt einer Toggenburger Bauernfamilie. Balz Thürknauf ist zwölf, als die Eltern in einem Autounfall sterben. Das Waisenkind gelangt in der Folge auf einen Bauernhof im Tösstal, wo ihn die Pflegefamilie lieblos aufwachsen lässt. Trotz der schwierigen Verhältnisse schafft Thürknauf den Weg in die Eigenständigkeit. Nach einer Lehre als Möbelschreiner weilt er für zwei Jahrzehnte als Entwicklungshelfer in Mittel- und Südamerika. Dort entdeckt er nicht nur die Mystik des Lesens, er beginnt – sachte vorerst, dann zunehmend intensiver – mit Schreiben, ohne Veröffentlichungen indes. Seit seiner Rückkehr in die Schweiz im Jahr 2000 arbeitet Balz Thürknauf als Matrose auf dem Vierwaldstädtersee. Er lebt als glücklicher Junggeselle im luzernischen Kastanienbaum, wo er sich den Winter hindurch mit Schreiben über Wasser hält. «Eigenbrot» ist sein vierter Roman. Für seinen Erstling «Hurenkinder» wurde der Autor mit dem Literaturpreis der Stadt Wörgl ausgezeichnet.

    Gerne hätte ich gewusst, wie das Buch in den Salon des Lion d'Or gekommen war. Noch bevor ich meiner Fantasie freien Lauf lassen konnte, überkam mich der Schlaf.