Gottfried Keller: Die missbrauchten Liebesbriefe, Reclam, Stuttgart, 1968 |
Auch aus seiner Frau möchte Viggi eine Buchgelehrte machen. Das Gritli wirft die Bücher, die sie studieren soll, heimlich in eine Ecke. Als einfaches Bürgermädchen hat sie einen Kaufmann geheiratet und keinen Schöngeist. Viggi ist da anderer Meinung und setzt sich durch. Während der nächsten Geschäftsreise schreibt er seiner Gattin einen Liebesbrief nach dem anderen. Gritli muss jeden beantworten. Die unkomplizierte Frau sieht sich ausserstande und findet beim besten Willen keine passende Entgegnung auf das Gefasel von «küssenden Sternen» und der «Urbejahung». In ihrer Not schreibt sie Brief für Brief ihres Viggi ab und richtet diese Kopien, behutsam in den Ton einer liebenden Frau transkribiert, an ihren Nachbarn, den 23-jährigen Unterlehrer Wilhelm. Vor Armut wagt sich Wilhelm an keine Frau heran, entbrennt aber sogleich in Liebe zum Gritli. Diese empfängt Liebesbrief für Liebesbrief via trennende Gartenhecke und schreibt auch die Produkte aus der Feder des Schulmeisters ab. Der Empfänger Viggi ist ganz erstaunt und fürbass entzückt. Der Dinterich kann es kaum glauben – so sehr hat er seine liebe Frau verkannt. Begeistert verlängert er seine Reise um vierzehn Tage, damit ein brauchbarer – sprich, zu publizierender – Briefwechsel entstehen kann. Während dieser zwei Wochen vergnügt er sich in der Fremde mit einer Schönen nach der anderen und tätigt nebenher manchen guten geschäftlichen Abschluss in Strohwaren. Viggi hat auch schon den Untertitel für seine nächste Publikation: «Briefe zweier Zeitgenossen». Das Einfache ist immer das Beste.
Wilhelm erschrickt. Die neue Geliebte hat ja einen Mann! Gritli vertröstet den überaus schüchternen Wilhelm. Es handele sich um einen Scherz. Er solle nur weiter mitspielen und es solle sein Schade nicht sein. Der Lehrer hält klaglos durch. Manchmal klopft Gritlis Herz bang, wenn sie Wilhelms Liebesworte abschreibt. Auf dem Heimweg fallen dem Geschäftsreisenden zufällig Gritlis Briefe an Wilhelm in die Hände. Er erkennt seinen Stil und jagt die Ehefrau, die «Buhlerin mit glattem Gesicht und hohlem Kopfe», aus dem Hause. Das elternlose Gritli kommt in Seldwyla bei einer ihr wohlgesinnten alten Tante unter.
Als Gritli auch nach ein paar Tagen nicht reumütig bei Viggi anklopft, beantragt der tief gekränkte Ehemann die Scheidung. Vor Gericht tritt er gegen seine Frau, diese «Gans mit Geierkrallen» wortgewaltig auf. Gans mit Geierkrallen – auf was für Ausdrücke der Dinterich kommt! Ihn wundert nur, dass ihm so etwas nie einfällt, wenn er schreibt. Gritli nimmt in ihrer Entgegnung vor dem Richter kein Blatt vor den Mund. Auch sie möchte mit ihrem Ehemann nicht mehr zusammenleben. Diese Auseinandersetzung – die langen Briefe in einer geschraubten Sprache betreffend – sei kein Fall für ein Ehegericht, sondern für ein literarisches Gericht. Der Richter scheidet das Paar und schlägt sich auf die Seite der Gattin. Viggi muss alles Vermögen, das Gritli mit in die Ehe gebracht hat, herausgeben.
Der eitle Viggi hat bereits eine neue Frau, die ihn wortgewandt und gefühlvoll tröstet. Die um die 37 Jahre alte Jungfer Käthchen Ambach – kurz: Kätter – schreibt gern Briefe, studiert Viggis literarische Ergüsse oberflächlich und redet dem neuen Ehemann vor den Seldwylern nach dem Munde. Kätter, eine stattliche, allerdings ein wenig kurzbeinige Dame mit ausgeprägter Kinnpartie, hat kein Vermögen mitgebracht. Im Verein mit ihrer Vergnügungssucht und ihrem gesunden Appetit ist Kätters Finanzschwäche eine der Ursachen für Viggis unaufhaltsamen Ruin. Die Seldwyler können Heiterkeitsausbrüche über das seltsame Literatenpärchen kaum verbergen.
Gritli lebt zurückgezogen bei der Tante. Dem Stadtpfarrer ist Wilhelms offensichtliche Gottlosigkeit – der Lehrer bleibt dem Gottesdienst fern – ein Dorn im Auge. Der Geistliche setzt die Suspendierung Wilhelms vom Schuldienst durch. Wilhelm will nun in die Fussstapfen seiner verstorbenen bäuerlichen Eltern treten. Er übernimmt die Bewirtschaftung eines Weinbergs oberhalb von Seldwyla. In dem Besitzer des Weinberges, einem Tuchscherer, findet der geschickte, arbeitsame Wilhelm einen verständnisvollen Förderer. Der neue Winzer lebt in dem zum Weinberg gehörigen Rebhäuschen als Einsiedler. Er hat sich nach seinem Geschmack eingerichtet. Die Bauern aus der Umgebung halten ihn für so etwas wie einen Heiligen und suchen gelegentlich seinen Rat.
Zögerlich findet Gritli den Weg zu dem zurückgezogen lebenden Einsiedler, der sie immer noch liebt. In das Rebhäuschen endlich mutig vorgedrungen, fasst sie sich ein Herz: «Ich wollte Sie gern fragen, ob Sie mir noch zürnen wegen der Geschichte mit den Liebesbriefen?» Als Wilhelm verneint, fügt Gritli bei: «Ich dachte in meinem Herzen, dass dafür meine Person, wie sie ist, Ihnen für immer angehören sollte, wenn die Zeit gekommen sei! Und da bin ich nun!» Das Happy-End folgt sogleich. Gottfried Keller schreibt: «Jetzt endlich umschlang er sie, bedeckte sie mit Küssen, die mit jeder Sekunde besser gelangen, und sie hielt ihm schweigend still und fand, dass sie bis jetzt auch nicht viel von Liebe gewusst habe.» Das Paar heiratet und bekommt Kinder. – Viggy und seine masslose Kätter sind inzwischen «längst vergessen und verschollen». (Eintrag auf Wikipedia)
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