15. August 2017

Der Niesen im Berner Oberlande

Eine Reiseskizze
von Dr. H., erschienen in der Oesterreichischen botanischen Zeitschrift, X. Jahrgang, Nr. 3, März 1860

Mancher Leser dieser Blätter hört hier wohl zum ersten Male den Namen eines Berges, der doch mehr als mancher andere, jetzt viel besuchte und gerühmte Punkt der an Naturschönheiten so reichen Schweiz die Aufmerksamkeit des flüchtigen Reisenden nicht allein, sondern auch des wissenschaftlichen Forschers verdient. Gleich merkwürdig durch seine Gestalt und prachtvolle Fernsicht, wie durch seine üppige Flora und seine interessanten geognostischen Verhältnisse und bereits im Jahre 1561 von Benedikt Aretius (der dem Genus Aretia seinen Namen gab) beschrieben, diente er doch bis jetzt beinahe nur der näheren und ferneren Umgegend zum Zielpunkt von Excursionen , während der grosse Touristenschwarm, der alljährlich die Schweiz durchflutet, und zum grossen Teile an seinem Fusse vorüber durchs Kandertal und über den Gemmipass dem Wallis zueilt, durch seine schwere Zugänglichkeit und den Mangel eines sicheren Obdachs auf der Spitze von der Besteigung abgeschreckt wurde. In den letzten Jahren ist das anders geworden. Seitdem ein mit grosser Mühe und bedeutenden Kosten angelegter, ganz gefahrloser Weg zum Gipfel des Niesen führt, und ein treffliches Gasthaus dem Wanderer erwünschte Labung und Schutz gegen einbrechendes Unwetter verspricht, hat sich ihre Zahl auch der ausländischen Besucher ungemein vermehrt und die Zeit dürfte nicht mehr fern sein, wo sein Name dem des Rigi und anderer berühmter Aussichtspunkte ebenbürtig genannt wird. Leider wird aber auch mit dem Eintreffen des unvermeidlichen Engländers und des lärmenden Franzosen der Berg viel von dem poetischen Reize verlieren, der sein einsames Haupt bisher schmückte.



Der Niesen, 7280 Fuss ü.M., 5580 Fuss über dem Spiegel des Thuner Sees gelegen, den sein Fuss beinahe berührt, ist ein fast ganz isolierter Berggipfel im Südwesten des Kantons Bern, zwei Stunden von Thun entfernt. Gleich einem weit vorgeschobenen Posten des höheren Alpengebirges, ist er, ein riesiger Wächter, zwischen den engen Ausgangspforten des Simmen- und Kander-Tales hingelagert, den Umwohnern ein zuverlässiger Wetterprophet. Schon aus der Ferne lenkt er durch seine fast regelmässige Pyramidenform das Auge des Reisenden auf sich. Nach drei Seiten schroff abfallend, hängt er nur gegen Südwest mit einer niedrigeren, gegen das Wallis auslaufenden Gebirgskette zusammen. Nur bis auf den vierten Teil etwa ist er bewaldet, den übrigen Teil des Berges bedecken schöne Triften, auf denen eine gesegnete Alpenwirtschaft von den Umwohnern betrieben wird. Sein Haupt reicht nicht in die Schneeregion, auch kann an seinen steilen Wänden der Winterschnee nicht lange haften und macht zeitig im Jahre einer mannigfaltigen Flora Platz.

Über die geognostischen Verhältnisse des Niesen kann ich als Laie nur erwähnen, dass er dem Kalke angehört, dessen Schichten auf mannigfache Weise von Schiefer, Sandsteine und Grauwacke durchsetzt werden. Den Gipfel bedecken mächtige, chaotisch durcheinander geworfene Sandsteinstücke, wie von Riesenhand nach allen Richtungen hingeschleudert.




Als ich im vergangenen Sommer auf einem botanischen Ausfluge durch die Schweiz in dem heiteren Thun angelangt, schon im Begriffe stand, vom Dampfe mich wieder dem Norden zuführen zu lassen, kam mir der Rat meiner freundlichen Thuner Wirtin, dem nahen Niesen zum Abschied noch einen Besuch abzustatten, ganz gelegen. Schon am vergangenen Abend hatte mir auf der Fahrt von Interlacken herüber seine gigantische, vom Abendrot bestrahlte Pyramide lockend zugewinkt und den Wunsch rege gemacht, mit seiner Besteigung meinen Reiseerlebnissen noch eine schöne Erinnerung hinzuzufügen. Ich hatte zwar des Schönen viel, für so kurze Zeit fast zu viel gesehen, und dabei als Neuling in den Schätzen einer reichen Alpenflora geschwelgt; Rigi und St. Gotthard, Furka und Grimsel, Rhonegletscher und Faulhorn hatten mir mit ihren schönsten Gaben Tribut zahlen müssen, und dennoch sah ich nur mit Bedauern dem Augenblick entgegen, der mich von so viel Herrlichkeiten trennen sollte. Begierig ergriff ich daher die günstige Gelegenheit, den Abschied noch um einen Tag hinauszuschieben und schon die nächste Stunde sah mich, am heitern Morgen des 29. Juli, auf der schönen Strasse nach Wimmis meinem Ziele zustreben. Eine fruchtbare, reich angebaute Gegend und links in nicht zu weiter Ferne die im Morgenlicht strahlende Kette der Berner Hochalpen gewährte Unterhaltung genug während des zweistündigen Weges bis Wimmis, welches, von einem altertümlichen Schlosse überragt, sich an den Fuss des Niesen anschmiegt. Ein Führer wurde hier akquiriert, mehr der Gesellschaft und des Gepäcktragens halber, als um den Weg zu zeigen, der deutlich genug vorgezeichnet war. Nachdem ein enges, von steilen, nadelholzbewachsenen Wänden umgebenes Wiesental durchschritten war, begann sogleich das Ansteigen, anfangs noch im Schatten des Gehölzes oder durch fette Bergwiesen, auf denen indes nur die gewöhnliche montane Flora, z.B. Scabiosa sylvatica, Gentiana campestris, Prunella grandiflora, Orchis militaris, Peristylus albidus u. A., untermischt mit einzelnen subalpinen Kräutern anzutreffen war. Hin und wieder öffnete sich eine reizende Fernsicht über den Spiegel des Sees und nahe und ferne Bergeshäupter, oder eine klare Quelle rauschte zwischen einem Walde hoher Farrenkräuter, zwischen denen Aconitum Napellus, Saxifraga rotundifolia, Veronica urticaefolia, Astrantia major, Prenanthes purpurea, Senecio cordatus u.A. wucherten, hervor. Nach und nach wurde die Holzung sparsamer und niedriger, der Rasen kürzer, aber auch das Ansteigen unter der brennenden Julisonne beschwerlicher. Über weithin sich dehnende Matten von zahlreichen Herden eines schönen Rindviehschlages belebt, zog sich der Weg in mannigfachen Windungen am Berge hinauf. Die bis dahin etwas einförmige Flora, fast nur aus kurzem Grase, untermengt mit den alpinen Formen von Lotus corniculatus, Thymus Serpyllum und Anthyllis Vulneraria bestehend, denen sich seltener Daphne striata und Veratrum album, desto häufiger und auf weite Strecken hin Rumex alpinus zugesellte, nahm allmählich alpinen Charakter an. Gentiana purpurea zeigte sich nun und blieb bis nahe an den Gipfel häufig, seltener, aber in riesengrossen Exemplaren, fand sich Gentiana lutea, ganz vereinzelt Gentiana punctata, dazwischen Cirsium eriophorum, an feuchten Stellen Cirsium spinosisximum, mit ihnen Parnassia palustris in fremdartiger zwerghafter Tracht, Trifolium caespitosum, badium, pratense var nivalis, Saxifraga Aizoon, Scabiosa lucida, Sedum album und atratum, Bellidiastrum Michelii, Homogyne alpina , Erigeron alpinus und glabratus, Chrysanthemum atratum, Arnica montana, Carduus defloratus , Leontodon hastilis var. alpina, Crepis aurea, Hieracium Auricula und angustifolium, Campauula barbata, pusilla und Scheuchzeri, Phyteuma betonicefolium, Gentiana acaulis (hier schon verblüht), Rhododendron ferugineum, Bartsia alpina, Euphrasia officinalis var. alpestris und salisburgensis, Poa alpina, Phleum alpinum, Festuca Halleri und ovina var. alpina.




Nach dreistündigem, ununterbrochenem Ansteigen war die noch eine Stunde unter dem Berggipfel gelegene Sennhütte erreicht, wo bei erquickender Alpenkost frische Kräfte für die noch übrige Strecke gesammelt wurden. Mit jedem Schritte auf dem fortwährend im Zickzack steil, aber bequem und gefahrlos ansteigenden Pfade öffnet sich eine neue, immer schönere Fernsicht auf die gerade gegenüber riesig emporsteigenden Berner Alpen, eine oft schon empfindliche Gletscherluft, die von ihnen herüber weht, kühlt die erhitzte Stirn und immer reicher entfaltet sich dabei eine herrliche Alpen-Flora. Die schöne Alpenaster färbt mit ihren Massen den Rasen fast tiefblau, und wetteifert mit den brennenden Farben des Alpen-Vergissmeinnichts und der Gentiana nivalis und bavarica; Nigritella angustifolia haucht ihre Düfte aus, Anemone alpina und vernalis, Arabis alpina, pumila, Arenaria ciliata, Cerastium strictum, Hedysarum obscurum, Phaca astragalina, Oxylropis montana, Geum montanum, Dryas octopetala, Potentilla aurea (nebst einer anderen, Poteiitilla, die der salisburgensis var. trifoliata am nächsten kommt), Alchemilla alpina, Gaya simplex, Bupleurum ranunculoides, Galium helveticum, Erigeron uniflorus, Gnaphalium carpaticum, dioicum var. alpina, supinum und Leontopodium (letzteres in grösster Menge), Pedicularis verticillata, Phyteuma hemisphaericum, Androsace Chamaejasme, Primula farniosa und ein Heer von Gräsern, darunter Avena versicolor und Festuca pumila, auch im Rasen versteckt Selaginella spinulosa und Cystopteris alpina, fesseln immer aufs Neue die Blicke.

So nahten wir uns unter fortwährendem Sammeln der Spitze, der Rasen wird dürftiger und zahlreiche Felsblöcke, oft Ruinen oder Mauern gleich, zwischen denen sich der kunstvoll angelegte Weg hinschlängelt, bedecken die Hänge des Berges. Endlich steigt die höchste Kuppe, bisher noch versteckt, vor den Blicken auf, nach wenigen Minuten ist das freundliche, mit manchem in solcher Höhe kaum gesuchten Komforts ausgestattete Gasthaus erreicht und wir können unter schattigem Dache unserem Körper die notwendige Ruhe und leibliche Erquickung gönnen.

Neu gestärkt klimmten wir die wenigen Schritte zur höchsten Spitze des Berges hinan, die nur wenig Personen Raum bietet. Eine Aussicht bietet sich hier, mit der sich nur wenige vergleichen, die wir aber hier dem Leser nur in ihren Hauptumrissen zeichnen können. Die ganze weite Fläche zwischen Alpen und Jura liegt vor uns, mit einer Unmasse von Ortschaften besät, von zahlreichen Seen belebt, von Gebirgen nach allen Richtungen hin durchzogen, im fernen Hintergrund von der vielgezackten Mauer des Jura begrenzt. Kehrt der Blick in die nähere Umgebung zurück, so fällt er zunächst in das zu unsern Füssen liegende Simmental, berühmt wegen seiner Fruchtbarkeit und trefflichen Viehzucht, jenseits von der Stockhornkette mit ihren abenteuerlich gestalteten Gipfeln begrenzt, welche nach dieser Seite hin die weitere Aussicht hemmen. Über die Simmentaler Berge hinweg erheben sich westlich zahllose Bergspitzen der Kantone Waadt, Genf und Freiburg. Weiter gegen Norden schweifend haftet das Auge auf dem glänzenden Spiegel des Thuner Sees, denn ein Kranz schöner Ortschaften umgibt und dessen Nordspitze das malerische Städtchen Thun krönt. Einem silberglänzenden Bande gleich schlängelt sich aus der Bucht des Sees die Aare in zierlichen Windungen dem alten Bern zu, dessen Turmspitzen dem Auge kaum noch deutlich erscheinen. Weiter nördlich lagern sich die niedrigeren Gebirge des Kantons Bern vor, dem Emmental und Entlebuch entsteigend. Nach NO, in der Tiefe, ist noch ein Teil des Brienzer Sees zwischen seinen hohen Felsenufern sichtbar, dahinter ragen der Pilatus, Brünig und andere Gebirge der östlichen Schweiz. Südöstlich strecken sich zu unseren Füssen die Frutigen-, Kander-, Adelboden- und Kien-Täler aus, in ihrem reichen Anbau einem Garten ähnlich, zwischen ihnen und dem Brienzer See die Berge des Lauterbrunnen- und Grindelwald-Tals und noch über diese majestätisch emporgipfelnd die Kette der Berner Hochalpen. Unter allen am prachtvollsten ragt die Blümlisalp oder Frau hervor, die mit ihren weiten Schneefeldern und Gletschern den Glanzpunkt der Aussicht bildet und weil mit ihrem Fuss dem Kiental entsteigend, hier ihrem ganzen Umfange nach, wie von keiner anderen Stelle aus sichtbar ist. Das Breithorn, die Jungfrau, der Eiger, die Schreck- und Wetter-Hörner reihen sich östlich an sie an, während gegen Süd und Südwesten die Gemmi, Altels, Karyl, Diablerets und unzählige andere, dem Wallis und Waadt-Lande angehörende Spitzen sich erheben. Eine im fernen Hintergrunde auftauchende Kuppe bezeichnete mir der kundige Führer als zur Gruppe des Montblanc gehörig. Wer, wie ich, das Glück hatte, diese Aussicht bei heiterem Himmel und einem gleich prachtvollen Sonnenauf- und Untergang zu geniessen, dem wird sie unvergesslich bleiben.

Wendet sich das Auge endlich von dem erhabenen Rundgemälde ab und der näheren Umgebung wieder zu, so trifft es zwischen den Felsenblöcken, dem Gerölle und kurzen Rasen der Spitze – ausser vielen der schon früher genannten Pflanzen – noch auf die Polster der Silene acnaulis, Saxifraga oppositifolia (schon verblüht), moschata und Seguieri? Aronicum scorpioides, Elyna spicata, Carex frigida, firma und ferruginea, Sesleria coerulea (nur auf der höchsten Spitze bemerkt) Poa minor. Schöne Steinflechten überziehen in mannigfachen Farben die verwitterten Blöcke.

Ein erquickender Schlaf folgte den gehabten Anstrengungen. Zeitlich am anderen Tage, um die Morgenkühle noch zu benützen, trat ich den Rückweg an, wobei ich leider der Zeitersparnis halber dem gestrigen Pfade wieder folgen musste. Nach kaum zwei Stunden war der Fuss des Berges, nach einer weiteren Stunde auch Thun wieder erreicht und der Nachmittag traf mich bereits, Dank der Geschwindigkeit des Dampfrosses, in dem schweizerischen Venedig, wie der Berner seine Stadt gern nennen hört. Ein mächtiger Strauss von Edelweiss folgte mir in die Heimat und mahnte noch lange an eine der genussvollsten Exkursionen.




Mit vorliegenden Zeilen bin ich natürlich weit entfernt, ein vollständiges Bild der Flora dieses Berges entwerfen zu wollen, sie enthalten nur das, was bei einer flüchtigen Besteigung zur Seite des Weges gesammelt oder notiert wurde. Ich würde sehr dankbar sein, wenn die kundigere Feder eines Schweizer Botanikers, vielleicht in diesen Blättern die obige Skizze vervollständigte. Denn es ist mit Recht anzunehmen, dass sich bei einer genaueren Durchforschung, namentlich auch der übrigen Seiten des Berges und zu einer früheren Jahreszeit, noch manche Seltenheit, so das von Gaudin erwähnte Eryngium alpinum, findet, und dass der Niesen seinem neuerlich durch manchen seltenen Fund berühmt gewordenen Nachbar, dem Stockhorn, auch in dieser Beziehung ebenbürtig zur Seite stehe. Und selbst wenn dies nicht der Fall wäre, würde schon die Üppigkeit der Flora und der Umstand, dass die Vegetationsgrenzen der Pflanzen hier, wie an andern isolierten Bergen, recht instruktiv hervortreten, und sich bequem studieren lassen, einem jeden Botaniker die immer etwas mühselige Besteigung lohnen.

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