29. Mai 2019

Brahmsweg



Der grosse Komponist Johannes Brahms verbrachte einige Zeit seines Lebens in Thun, «dort, wo die Aare sanft dem See entgleitet, zur kleinen Stadt hinab, die sie bespült».

Mit den zitierten Worten beginnt Josef Viktor Widmanns Gedicht, das er «Thuner Sonate von Johannes Brahms» nennt. Gemeint ist die von Brahms während seines ersten Thuner Aufenthaltes 1886 komponierte zweite Sonate in A-dur für Violine und Klavier, op. 100.

Widmann erzählt sehr anschaulich, wie er Brahms zum ersten Mal sah und spielen hörte, allerdings ohne zu ahnen, dass sie sich später in wahrer Freundschaft zugetan sein würden. «Es war im Winter 1865, anlässlich eines Kammermusikabends in Winterthur, in dem Hegar und Brahms mitwirkten. Brahms, damals im dreiunddreissigsten Lebensjahr stehend, machte mir nicht allein durch sein gewaltiges Klavierspiel, mit dem sich noch so brillante blosse Virtuosenkunst nicht vergleichen liess, sondern auch durch seine persönliche Erscheinung sofort den Eindruck einer machtvollen Individualität. Zwar die kurze, gedrungene Figur, die fast semmelblonden Haare, die vorgeschobene Unterlippe, die dem bartlosen Jünglingsgesicht einen etwas spöttischen Ausdruck gab, waren in die Augen fallende Eigentümlichkeiten, die eher missfallen konnten; aber die ganze Erscheinung war gleichsam in Kraft getaucht. Die löwenhaft breite Brust, die herkulischen Schultern, das mächtige Haupt, das der Spielende manchmal mit energischem Ruck zurückwarf, die gedankenvolle, schöne, wie von innerer Erleuchtung glänzende Stirn und die zwischen den blonden Wimpern ein wunderbares Feuer versprühenden Augen verrieten eine künstlerische Persönlichkeit, die bis in die Fingerspitzen mit genialem Fluidum geladen zu sein schien. Auch lag etwas zuversichtlich Sieghaftes in diesem Antlitz, die strahlende Heiterkeit eines in seiner Kunstausübung glücklichen Geistes, so dass mir, während ich kein Auge von dem so mächtig in die Klaviatur greifenden jungen Meister verwandte, die Worte Iphigeniens von den Olympischen durch den Sinn gingen:

Sie aber, sie bleiben
in ewigen Festen
an goldenen Tischen.
Sie schreiten von Bergen
zu Bergen hinüber

Erst im Jahr 1872 machte Widmann dann anlässlich eines Musikfestes in Zürich recht eigentlich die Bekanntschaft von Brahms, der ihn daraufhin zwei Tage in Bern besuchte. «Brahms war damals besonders guter Laune», so berichtet Widmann, «er spielte unaufgefordert Bachsche Präludien und Fugen, auch einiges auf meinem Flügel, setzte sich auf einem Abendspaziergang mein fünfjähriges Töchterchen, ein sehr lebhaftes Kind, auf den Nacken und trabte mit der kleinen Reiterin lustig auf dem Trottoir dahin, ohne sich von den erstaunten Blicken der Vorübergehenden in seinem Spiel irre machen zu lassen. Brahms war ein großer Kinderfreund. Selten stand er vom Wirtshaustisch auf, ohne ein paar süsse Sächelchen des Nachtisches zu sich zu stecken, um damit unterwegs in den Augen irgendeines ihm begegnenden Kindes ein kleines Freudenfeuer anzuzünden. Als scharf blickender Beobachter musste er an Erwachsenen häufig so manche Unaufrichtigkeit bemerken oder andere Charakterfehler, die ihn verstimmten. In Kindern, die sich in all ihrem naiven Egoismus ganz so gaben, wie sie waren, und durchaus keine Engel zu sein brauchten, für die er sie auch nicht hielt, ruhte sein eigenes, durch und durch treues und ehrliches Gemüt von so mancher Enttäuschung aus, die ihm die Grossen bereiteten. Besonders fühlte er sich zu den Kindern der ärmeren Klasse hingezogen. Es tat ihm leid, dass die an ihre alemannische Mundart gewöhnten Schweizer Kinder sein Norddeutsch nicht recht verstanden und daher nicht immer so zutraulich mit ihm plauderten, wie er es wohl gewünscht hätte. Auch fand er die österreichischen Kinder von Natur lebhafter, frischer aus sich heraustretend, was ihn indessen nicht abhielt, auch in der Schweiz überall mit dem kleinen Völkchen der Strasse sich einzulassen. Als er später einige Sommer in Thun zubrachte, kannten ihn alle die kleinen Buben und Mädchen und folgten ihm manchmal truppweise mit einer Mischung von Scheu und dem Wunsch, von ihm bemerkt zu werden.»

Von der Begegnung 1872 an riss die Verbindung zwischen Brahms und Widmann nicht mehr ab, dies umso mehr, als eine Zeitlang ein Opernprojekt sie gemeinsam beschäftigte. Brahms entschied dann aber, «keine Oper und keine Heirat mehr zu versuchen», und teilte diesen Entschluss als «schöne Prinzipien» Widmann mit. Über sein Junggesellentum sprach Brahms gewöhnlich nur in scherzendem Ton und bediente sich, besonders neugierigen Damen gegenüber, mit Vorliebe der lustigen Formel: «Leider Gottes, gnädige Frau, bin ich immer noch nicht verheiratet, Gott sei Dank!» Widmann erinnert sich aber auch eines ernsthaften Gesprächs mit Brahms über diesen Punkt: «Es war in einem jener Thuner Sommer. Wir gingen frühmorgens auf der dem See entlang führenden Strasse von der Beatenbucht zum Dörfchen Merligen und waren, ich weiss nicht wie, auf Frauen und auf Familienleben zu sprechen gekommen.» Brahms erzählte dann, dass in der Zeit, in der er am liebsten geheiratet hätte, seine Sachen in den Konzertsälen ausgepfiffen worden seien. Das habe er nun gut ertragen können, da er genau gewusst habe, was sie wert seien. Aber nach den Misserfolgen vor eine Frau hintreten und in ihre ängstlich fragenden Augen hinein sagen zu müssen: Es war wieder nichts – nein, das hätte er nicht ertragen! Nach einer längeren Pause setzte Brahms plötzlich hinzu: «Es ist aber auch so gut gewesen!» und zeigte wieder sein ruhiges, zuversichtliches Antlitz.

Zum erstenmal nahm er im Sommer 1886 in Thun Quartier, das ihm sehr gefiel und wo er auch in Widmanns Nähe war. Er mietete den ganzen 1. Stock eines einem Kaufmann Spring gehörenden Hauses «von brauner Farbe mit grünen Fensterläden». Von seiner Wohnung aus sah er ungehindert auf die aus dem See heraustretende, blau flutende Aare, was ihm besonders zusagte. Schräg gegenüber erblickte er die kleine Aareinsel, auf der Heinrich von Kleist 1802 gewohnt und gedichtet hatte. Und während unten im Haus Kaufmann Spring seine Spezereien verkaufte, schuf sein Mieter in der Wohnung über ihm einige seiner schönsten Werke, denn Brahms bewohnte auch in den folgenden beiden Sommern dasselbe Quartier, da er sich darin «ungeheuer behaglich fühlte», wie er sagte.

Wie verlebte nun Brahms einen solchen Thuner Tag? Hören wir Widmann: «Schon beim ersten Morgengrauen munter, braute er sich auf seiner Wiener Maschine das erste Morgenfrühstück selbst, zu dem ihm eine treue Verehrerin aus Marseille den trefflichsten Mokka in solcher Fülle geliefert hatte, dass er gleich anfangs an meine Haushaltung davon abgeben und sich so das Vergnügen leisten konnte, bei seinen Besuchen in Bern wenigstens am Kaffeetisch Wirt und Gast in einer Person zu sein. Die Morgenstunden waren der Arbeit gewidmet, die in der Thuner Wohnung, wo ihm eine grosse Laube und eine Flucht von mehreren ineinandergehenden geräumigen Zimmern ein von niemand gestörtes, sinnendes Umherspazieren gestattete, ganz besonders gut geriet. Die Sonate für Cello und Klavier Opus 99, die Sonate für Violine und Klavier Opus 100, das Trio für Klavier, Violine und Cello Opus 101 sind die Hauptzeugen seines Schaffens im ersten Thuner Sommer, lauter Werke, die sich durch herrlichste Frische der Phantasie auszeichnen.» (Alle drei Werke wurden zuerst in Widmanns Haus gespielt. Hier mag beigefügt sein, dass Brahms grosse Freude am Gedicht «Die Thuner Sonate» bezeugte und Widmann später um einige Abzüge bat. «Wenn mir niemand sagt, ob und wie ihm meine Musik gefällt, wie soll ich es denn wissen?» äusserte sich Brahms einmal.) «Zu Mittag», erzählt Widmann weiter, «speiste Brahms, wenn die Witterung es einigermassen erlaubte, in irgendeinem Wirtshausgarten; das Table-d'hôte-Essen blieb ihm zeitlebens verhasst, und wo immer möglich vermied er es, schon aus dem einfachen Grunde, weil er nicht gern Toilette machte. Im gestreiften Wollhemd, ohne Krawatte, ohne angeknöpften weissen Kragen war ihm am wohlsten; selbst den weichen Filzhut trug er mehr in der Hand als auf dem Kopf. Fuhr er übers Wochenende nach Bern, hatte er eine lederne Reisetasche umgehängt, die einer mit Steinen vollgestopften Tasche eines wandernden Mineralogen glich, aber hauptsächlich nur die Bücher enthielt, die ich ihm das vorigemal geliehen hatte und die er zurückbrachte, um sie gegen andere umzutauschen. Bei schlechtem Wetter hing ihm ein alter braungrauer Plaid, der auf der Brust von einer ungeheuren Nadel zusammengehalten wurde, um die Schultern und vervollständigte die seltsame, unmodische Erscheinung, der alle Leute erstaunt nachblickten.» Widmann bezeugt, er habe «nie jemanden gesehen, der den Erscheinungen des Lebens so frische, echte und andauernde Teilnahme geschenkt hätte». Eine moderne Erfindung allerdings, das Fahrrad, war ihm tief verhasst, weil diese oft so unvermutet an dem stillen Spaziergänger vorübersausenden oder mit einem plötzlichen Signal ihn erschreckenden Maschinen seinen Gedankenfluss störten und ihm ausserdem auch die strampelnde Bewegung unschön vorkam. Immer hoffte er, es handle sich um eine vorübergehende Modetorheit (Was hätte Brahms erst zu Motorrädern gesagt?)

Es ist erwähnenswert, dass Brahms in den Thuner Sommern stets die Novellen und Gedichte Gottfried Kellers bei sich zu haben wünschte. Brahms und Keller kannten sich auch persönlich, und Widmann war Zeuge, wie die beiden, als sie sich trafen, «sofort ins schönste Einvernehmen kamen». Dies ist durchaus nicht selbstverständlich, da sich Keller in der Regel einer neuen Bekanntschaft gegenüber wortkarg und brummig verhielt. Bei Brahms aber fühlte er sogleich eine ihm verwandte Natur: beide besassen sie auf ihrem Gebiet der Kunst die ruhige Sicherheit des Meisters und waren absolut schlicht und phrasenlos in ihrem Wesen. «Die Hauptsache aber, wenn zwei so wahrhaft Grosse zusammenkommen», sagt Widmann, «ist das stille Grüssen von Genius zu Genius; und es war wahrhaft schön, zu sehen, wie diese beiden Männer von Anfang ihrer Begegnung an einer im andern gleichsam ruhten.»

In den drei Thuner Sommern wurde Brahms recht häufig von Besuchern aller Art aufgesucht. Teils waren es Freunde und Bekannte aus Deutschland und Österreich, dann aber auch Komponisten und Kapellmeister, nicht zu vergessen klavierspielende Damen, die dem Meister vorzuspielen und ein Lob aus seinem Munde zu erhalten wünschten. Brahms besass nun offenbar, auf Grund langer Übung, grosses Geschick, solche Besucherinnen mit Höflichkeit zu verhindern, am Flügel überhaupt Platz zu nehmen, den ihm ein Berner Musikalienhändler zur Verfügung gestellt hatte. Natürlich fehlten auch neugierige Fremde, Autogrammjägerinnen und -jäger nicht.

Brahms besass, was den schriftlichen Verkehr anbelangt, in hohem Masse die Gabe, mit wenig Worten viel zu sagen. Sein bevorzugtes «Briefpapier» war dabei die Postkarte, «deren Format ihm jede Möglichkeit ausführlicher Darstellung liebevoll abschnitt». Von Thun nach Bern flogen daher etwa Korrespondenzkarten, wie die beiden folgenden, in denen Brahms seinen Besuch anzeigt:

«Ich will nicht; ich soll, ich darf, ich kann nicht — aber ich muss! Ich muss einmal nachsehen ob das Kleine (gemeint ist Widmanns Jüngste) noch immer nicht da ist. Soviel Sie auch schreiben, nie ist die Rede von dieser Perle des Hauses, der Strasse, der Stadt.»

«Soeben beschlossen, Sie morgen Donnerstagnachmittag heimzusuchen. Wenn keine Küche auf dem Tisch steht, sieht sich als entlassen an Ihr herzlich grüssender B.

Erst im Oktober verliess Brahms Thun, um nach Wien zurückzukehren, war aber schon im Mai des folgenden Jahres wieder da, nicht ohne in Bern Station gemacht zu haben. Widmann war damals noch in Venedig, was Brahms wusste, denn sie hatten sich in Bologna treffen wollen, sich jedoch verfehlt. Er führte sich bei Frau Widmann mit den Worten ein: «Ihr Mann ist noch ein wenig nach Zypern gefahren», und so wolle er versuchen, den Hausvater zu spielen. Leider war der Sommer 1887 ein recht regnerischer, und Brahms weilte daher noch häufiger in Bern, da ihm «Thun bei dem frostigen Regenwetter wenig Schönes bot». Die Familie Widmanns bewohnte einige Wochen ein Ferienhaus oberhalb Merligen am Thunersee, wo Widmann sie jeweils übers Wochenende, da er in Bern die Woche hindurch festgehalten war, besuchte. Wie Brahms nun auf Postkarten das Thema des
nasskalten, unfreundlichen Wetters behandelte, verdient festgehalten zu werden. Da
hiess es:

«Ich denke mir, Sie werden morgen mit einem Photographen nach Merligen fahren, um Gruppenbilder der Erfrorenen herstellen zu lassen. Die Gemütsbewegung wird stark sein, aber vielleicht sehe ich zu. Hernach suchen wir neu gebildete Eishöhlen und schliesslich – die Reste der Nahrungsmittel! Herzlich teilnehmend und grüssend Ihr J. B.»

Und weiter:

«Liebster Freund! Ich sage nur in Kürze, dass Sie diese Woche kein isländisch Moos für mich zu suchen brauchen und kein Robbenfell in die Beize legen.» Und so weiter.

Nur Regentage gab es doch nicht, denn Widmann wiederholte mit Brahms «bei wahrhaft göttlichem Wetter» einen Ausflug vom vorigen Jahr nach Mürren. Brahms war auch auf dem Niesen und am Oeschinensee gewesen. Es gab noch keine Bahn nach Mürren, und Brahms, der bekanntlich zu Korpulenz neigte, stiessen steile Wege recht sauer auf, was er auch unverhohlen zum Ausdruck brachte. Um so flinker war er, wenn es bergab ging, man vermochte dann kaum Schritt zu halten. Auf dieser Mürrentour war es, wo Brahms nach einem freundschaftlichen Disput mit Widmann den lustigen Ausspruch tat: «Wir gefallen mir! Na, kann man vielleicht so nicht sagen, Sie deutscher Stilist? Sie haben's vielleicht noch nie so gehört. Aber besinnen Sie sich nur, es ist ganz korrekt: Wir gefallen mir!»

Übrigens erlebte er kurz vor seiner Abreise im September seines zweiten Thuner Aufenthalts noch die bekannte Episode mit Widmanns Hündchen Argos mit, das dieser auf dem Grindelwaldgletscher bei hereinbrechender Nacht hatte zurücklassen müssen. Brahms war tief verstimmt gewesen, als Widmann ohne Hündchen eines Freitagabends in Bern angelangt war, und hatte gesagt: Den armen kleinen Burschen werden Sie nie mehr sehen.» Am darauffolgenden Montagmorgen vor 6 Uhr weckte jedoch ein Scharren an der Wohnungstüre die ganze Familie Widmann und ihren Gast. Es war Argos, der dem Eigermassiv entlang über Scheidegg, Wengen, Lauterbrunnen nach Interlaken, von dort dem Thunersee entlang und zuletzt von Thun nach Bern gelaufen war. Brahms rief einmal übers andere aus: «Also so was gibt's, dergleichen ist nicht bloss Jägerlatein!» Im ersten Brief aus Wien schrieb er: «Was macht Argos? Würde er es nicht wie einen zärtlichen Gruss von mir empfinden, wenn Sie ihm einmal statt Brotkügelchen ein schönes Stück Fleisch gäben?» Was denn auch geschah.

In Brahms' zweitem Thuner Sommer entstand das prächtige Doppelkonzert für Violine und Cello, das dann mit dem Geiger Joachim und dem Cellisten Hausmann bei Clara Schumann aus der Taufe gehoben wurde. Brahms hatte sich von Thun her geäussert: «Ich kann den Einfällen zu einem Konzert für Violine und Violoncello nicht widerstehen, so sehr ich es mir auch immer wieder auszureden versuche.»

Wie ging es übrigens zu, wenn Brahms komponierte? Er pflegte zu sagen, in den Sommermonaten tue er dies «spazierengehend». Der Laie stellt sich das sicher als recht behagliche Beschäftigung vor. Wie die Wirklichkeit aussah, erzählt ein Freund, der Brahms zweimal antraf, als er im «Fieber des Schaffens» war: «Er rannte wie ein Besessener über eine Wiese, in der einen Hand den Hut schwenkend, in der andern den Rock im Gras nachschleifend. Seine Augen glühten unheimlich, der Schweiss lief ihm über das Gesicht, laut schnaufend eilte er an mir vorbei, ohne mich zu sehen.»

Im Sommer 1888 bezog Brahms zum drittenmal seine Thuner Wohnung und freute sich, den ihm lieben Besuchern die schöne Umgebung seines «Sommerlandes» zu zeigen. Er zog mit ihnen zu Fuss oder per Wagen und Schiff aus. An Kompositionen vollendete er die d-moll-Violinsonate Opus 108 und schuf verschiedene Vokalwerke, ausser den Zigeunerliedern (op. 103) vorherrschend wehmütige, tief lyrisch empfundene Kompositionen, mit denen Brahms eigentlich sein Liedschaffen abschloss. Es folgten einzig noch die «Vier ernsten Gesänge», die er im Juli 1896 den Töchtern der im Mai verstorbenen Clara Schumann mit den Worten sandte: «Ich bitte, sie als das ganz eigentliche Totenopfer für Ihre geliebte Mutter anzusehen.» – Was ihm Clara Schumann bedeutete, möge der folgende, von Widmann bezeugte Ausspruch klarmachen: «Wenn Sie etwas schreiben, so fragen Sie sich immer, ob eine Frau wie die Schumann mit Wohlgefallen ihren Blick darauf könnte ruhen lassen. Und wenn Sie das bezweifeln müssen, so streichen Sie es aus.» Als Widmann, durch Brahms eingeführt, Clara Schumann zum ersten Mal sah, war sie 70jährig. Widmann aber schreibt: «Auf ihrem Antlitz lag der Ausdruck jener unverwelklichen Jugend, wie er nur ganz guten, reinen Menschen bis ans Ende treu bleibt.»

Und nun schied Brahms endgültig von Thun, denn im folgenden Sommer mietete er eine Wohnung in Ischl. «Was ich dort suche und wünsche, wissen Sie, weniger aber, was ich entbehren werde», hiess es in einem Brief an Widmann. In den Thuner Sommern hatte Brahms den nahen Umgang mit seinen Wiener Freunden oft doch sehr vermisst, und die «manchmal recht einsamen Thuner Abende» fielen in Ischl dahin. Ferner hiess es humoristisch: «Hier gibt es keine Engländer, und auch die Norddeutschen sind weniger zahlreich und besser als in Thun.»

Nur elf Monate nach Clara Schumanns Tod schloss in Wien auch Brahms die Augen. In der Zeit kurz vor seinem Tod entstehen noch elf Choralvorspiele. Die allerletzten Noten, die er schreibt, gehören zum Vorspiel des Chorals: «O Welt, ich muss dich lassen ...»

Widmann erhält das Telegramm mit der Trauernachricht am Abend des Todestages. Es war der 3. April 1897.

Sicherlich kommt es nicht darauf an, wo ein Mensch lebt und arbeitet, und die Thuner Sommer machen im Leben von Johannes Brahms nur eine kleine Zeitspanne aus. Verschwunden auch ist das Haus, das er bewohnte. Als einziges blieb von ihm, bevor es dem Verkehr weichen musste, die Erinnerungstafel erhalten, die sich an der Hausfront befunden hatte und mit einem von Widmann seinem tief betrauerten Freunde gewidmeten Zweizeiler von der Thuner Zeit des Meister kündet. Sie fand bei einem Zierbrunnen in der nahebei errichteten Anlage eine neue Stätte. Zugleich wurde eine von Hermann Hubacher geschaffene Erinnerungsplastik enthüllt, eine den Bergen zugewandte, wie gebannt einer innern Musik lauschende weibliche Figur darstellend (im Volksmund «Brahmsrösi»* genannt).

Unverändert, jung und frisch geblieben aber ist, wie die Musik des Meisters, einzig die Landschaft: die blau flutende Aare, der See, die Ufer, die Berge, die kleine Stadt, das ganze, von Brahms so geliebte «Sommerland».

Und weshalb sollte eine uns ohnehin liebe und schöne Gegend nicht noch an Wert gewinnen durch das Wissen: Ein edler Mensch und wahrhaft Grosser im Reich der Kunst hat diese Landschaft ebenfalls geliebt!

Quelle: Schweizerische Lehrerzeitung, Band 60, 1955/56

*Der Thuner Krimiautor Stefan Hänni hat mit dem Roman «Brahmsrösi» dem Komponisten ein lesenswertes Denkmal geschaffen.

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