Am Yachthafen machen die letzten Kapitäne ihre Schiffe winterdicht. Und wie immer um diese Tageszeit bevölkern Hundehalter Strassen und Wege. Entlang von Autobahn und Eisenbahn strebe ich der Nordwestecke des Bielersees zu. Ein wüster Strassenviadukt zwängt sich durch Wohn- und Freizeitgebiete. Das Rauschen der vorbeifahrenden Autos ist trotz Lärmschutzwänden gut zu hören. Auf dem See schwimmen Hunderte von Enten. Am Horizont die Silhouette der St. Petersinsel und dem Städtchen Erlach. Auf ein Uferwäldchen folgt der nächste Yachthafen. Am nahen Zihlkanal frischer Biberfrass. Der Nager muss neu sein in der Gegend. Ein einziger Baum hat er sich bislang vorgenommen.
Mittlerweile habe ich den Zwei-Kilometer-Korridor verlassen. Die Binnenschifffahrtsverordnung lässt es leider nicht zu, den See mit einem Schlauchboot zu überqueren. Für einen Kilometer folge ich dem Kanal stromaufwärts, den steifen Wind nun von vorn. Die Justizvollzugsanstalt St. Johannsen rückt ins Blickfeld. Auf der Website des Kantons Bern lese ich zu Hause mit mulmigem Gefühl: «Willkommen in der Justizvollzugsanstalt St. Johannsen». Nach dem per Ende Oktober 2016 geschlossenen Jugenheim Prêles, ist dies die zweite Institution für aus der Norm gefallene Menschen, der ich begegne. Weitere Nachforschungen führen mich auf eine Website, die über das Museum St. Johannsen informiert:
«Im Jahr 1096 wurde auf dem Gebiet zwischen der Zihlbrücke, Erlach und Le Landeron die Benediktinerabtei St. Johannsen gegründet. Von 1528–1798 wurde die Abtei zum bernischen Landvogteisitz und diente ab 1883 als Strafanstalt für Männer und Frauen. Seit 1911 wird St. Johannsen als kantonales Massnahmenzentrum für Männer geführt. Die bewegte Geschichte der Anlage ist nicht ohne Spuren an ihr vorbeigezogen. Im historischen Teil des Zentrums wurde jedoch viel bewahrt. Im dort eingerichteten Museum werden Funde aus zahlreichen Ausgrabungen beherbergt. Hunderte von romanischen und gotischen Werkstücken sowie eine reiche Plan- und Bilddokumentation geben Einblick in das Bauwesen des Mittelalters. Wer sich für das Bauwesen der romanischen und gotischen Epoche interessiert, ist hier am richtigen Ort.» Das Museum ist indes nur für Gruppen und auf Voranmeldung zugänglich.
Grün die Begrenzung des Zwei-Kilometer-Korridors. In der Mitte die Koordinate 574, der ich vom Pruntruter Zipfel bis ins Unterwallis folge. |
Mit der Überquerung des Zihlkanals verlasse ich für den Rest dieser Etappe das französische Sprachgebiet, wechsle also über den vielzitierten Röstigraben in die Deutsschweiz. Kurz vor Erreichen des Bielersees hat mich mein Korridor wieder. Und beim Campingplatz von Erlach treffe ich auf die Koordinate 574, den roten Faden dieses Wanderprojektes. In Erlach ist dieses Jahr die 1962 gegründete Band Status Quo aufgetreten. Wenige Stunden nach meiner Erlacher Passage berichten die Medien, dass Rick Parfitt, der blondhaarige Gitarrist der Band, heute im Alter von 68 Jahren an einer Infektion gestorben ist.
Das im Sommer betriebsame Erlach ist wie ausgestorben. In einer Zick-Zack-Linie rücke ich in südlicher Richtung vor. Am Horizont sehe ich noch einmal die markante Silhouette des alten Ortsteils von Erlach mit dem Schloss. Leicht ansteigend nähere ich mich dem Aussichtspunkt St. Jodel. Ausgerechnet hier, auf dem höchsten Punkt der alten Strassen Ins–Erlach und Ins–Lüscherz–Biel, bläst der Wind am stärksten. Ums Jodeln ist mir also nicht zu Mute. Dafür erfahre ich, dass hier einst eine Wegkapelle stand, die an Theodorus aus Octodurus (Martigny) erinnerte, den ersten historisch fassbaren Bischof von Sion. Aus dem Namen Teodorus war Theodul geworden. Letzterer nennt man auch Joder oder eben Jodel. St. Jodel diente bis zum Ende des Alten Bern auch als Hochwacht. Der sogenannte «Chutz» wurde um 1800 entfernt.
In den Alpen herrscht noch Föhn, weshalb ich für einen kurzen Moment die Berner und Freiburger Voralpen sehe, ehe ich nach Ins gelange. Imposant die Kirchenanlage, vor allem weil sich das Pfarrhaus mitsamt den dazugehörigen Nebengebäuden mächtiger gibt als die eher bescheidene Kirche mit ihrem niedrigen Turm. Im Gotteshaus ist alles vorbereitet für den Weihnachtsgottesdienst. Beim Ausgang nehme ich mir «Ds Lukas-Evangelium bärndütsch». Das Büchlein ziert ein sitzender Junge. Gezeichnet hat ihn Albert Anker, der wohl berühmteste Inser aller Zeiten.
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