26. Mai 2013

Negerlein und Wanderlappen

Der Berner Reiseschriftsteller René Gardi (1909–2000) hat nebst zahlreichen Reisebüchern auch Anleitungen zum sinnvollen Unterwegssein verfasst. Vom glückhaften Wandern nennt sich eine davon. Das Büchlein erschien 1952 bei Kümmerly & Frey, Graphische Anstalt, Bern. Mit Wandern meint Gardi nicht zwingend das Gehen zu Fuss, sondern den damals geläufigen Oberbegriff für das Reisen, in welcher Form auch immer. Ich habe die Schrift vor kurzem gelesen und dabei festgestellt, dass der Tourismus bereits vor 60 Jahren an denselben Krankheiten litt, wie er dies heute noch tut.

Kilometerfressende, attraktionsgeile Touristen geisselt Gardi ebenso, wie gehfaule Schüler oder Eltern, die ihren Kindern die Natur vorenthalten. Von Schweizern schreibt er, die sich im Ausland unmöglich aufführen und Ansprüche an Komfort, Pünktlichkeit sowie Essen stellen, jenseits von Gut und Böse. Im Gegensatz dazu plädiert der ehemalige Sekundarlehrer und Ethnologe für ein ungebundenes Reisen mit der Idee, sich Zeit für Land und Leute zu nehmen. Mit den Menschen in Kontakt zu treten, müsse Sinn und Zweck des Tourismus sein, denn nur so habe der Reisende wirklich etwas von seiner Fahrt, finde sie nun in der Schweiz oder im Ausland statt.

Hübsch illustriert: René Gardis
Vom glückhaften Wandern, 
Kümmerly & Frey, Bern, 1952

Ich kann der Haltung René Gardis auch aus eigener Erfahrung voll und ganz zustimmen. Gerade wer zu Fuss durch die Lande zieht, findet genügend Zeit und Musse, da und dort mit einem Sennen, einer Landwirtin, einem Bauarbeiter oder einer Hundehalterin ein Gespräch zu führen und mehr über dieses oder jenes zu erfahren, das sich in der Umgebung gerade zeigt. Wenn sich indes in vergangener Zeit etwas verändert hat, dann die Sprache. Konnte René Gardi in seinen Büchern unwidersprochen von Negern, Negerlein und Wanderlappen* schreiben, so wäre dies heute schlicht undenkbar.

*Wanderlappen sind nomadisierende Samen und nicht etwa Wanderer mit schlechten Manieren

22. Mai 2013

Fahrt mit der RhB am Genfersee

Mit zwei Stunden Verspätung kam ich gestern auf Les Pléiades, dem Hausberg von Vevey an. Meine Anreise vom Bernbiet an den Genfersee dauerte geschlagene fünf Stunden. Grund dafür war eine Fahrleitungsstörung bei Schmitten (FR). Einmal mehr amüsierte ich mich über die mangelhafte Fahrgastinformation. Von drei verschiedenen Stimmen wurden wir in regelmässigen Abständen darüber unterrichtet, dass wir infolge einer technischer Störung nicht weiterfahren können. Kaum ein Satz wurde richtig formuliert. Weder auf Deutsch, Französisch noch in Englisch. Alleine diese Lachnummern machten die Panne auf eine witzige Art erträglich. Den Vogel schoss indes die letzte Durchsage ab:

Werte Fahrgäste, wir treffen um 10 Uhr 50 in Lausanne ein. Dieser Zug endet wegen der grossen Verspätung hier. Bitte benutzen Sie zur Weiterfahrt nach Genf den Intercity, Abfahrt um 10 Uhr 45. 

Liebe SBB, bitte schulen Sie doch einmal Ihr Fahrpersonal in Sachen Lautsprecherdurchsagen. Und zwar in allen gängigen Landessprachen inklusive Englisch. Und bitte auch ein Augenmerk auf Aussprache und Sprechrhythmus richten. Dieses mitunter unverständliche Genuschle und Gebrabble geht auf keine Kuhhaut.

Die Verspätung hatte immerhin zur Folge, dass ich von einer Zugbegleiterin einen Gutschein über zehn Franken erhielt. In Blonay musste ich zudem eine halbe Stunde auf den Anschlusszug nach Les Pléiades warten. Hierbei entdeckte ich einen alten Triebwagen der Rhätischen Bahn (RhB). Ich kramte meine Fotoausrüstung hervor und begann, den Oldtimer abzulichten. Das Fahrzeug gehörte offensichtlich zur Flotte der Museumsbahn Blonay-Chamby. Ein paar Bähnler werkelten irgendetwas am Triebwagen herum. Plötzlich rief mir einer zu, ob ich mitfahren möchte. Ich dachte zuerst, das sei ein Witz, doch der Mann meinte es ernst. Und so kam ich hoch über dem Genfersee zu einer kurzen Dienstfahrt in einem 105-jährigen Fahrzeug der RhB. Das entschädigte mich doch glatt für die anderthalb Stunden Wartezeit bei Wünnewil, wo, das sei noch nachgeschoben, ein ausländischer Geschäftsmann per Handy folgende Meldung durchgab: «Well, I got stuck on the train in the middle of nowhere between Basel and Geneva.»

Triebwagen Nr. 35 ABe 4/4 I der RhB im Bahnhof von Blonay (VD). Das Fahrzeug wurde 1908 bei der damaligen Berninabahn in Betrieb genommen, 1949 durch die RhB umgebaut und 2010 daselbst ausgemustert. Am 6.5.2010 erfolgte die Überfahrt zur Museumsbahn Blonay–Chamby, wo die alte Dame weiterhin rumruckeln darf.
Instruktionsfahrt auf dem Triebwagen Nr. 35 ABe 4/4 I der RhB bei Blonay (VD).

Die erste Klasse des Triebwagens wird durch den Buchstaben A in der Typenbezeichnung ABe 4/4 ersichtlich.

Der Buchstabe B der Typenbezeichnung ABe 4/4 weist auf die zweite Klasse hin. Zur Ergänzung: Das kleine E bei ABe 4/4 deutet auf ein elektrisch betriebenes Fahrzeug hin.

17. Mai 2013

Zur Koexistenz verdammt

Sehr informative Dok-Sendung gestern auf SRF1. Es ging um den Biber, wie er lebt und was er treibt. Es ging auch um den Menschen, wie er sich mit dem Biber arrangiert oder zumindest zu arrangieren versucht. Mir gefiel die journalistische Aufarbeitung des Themas, angefangen vom als Wortspiel zu verstehenden Filmtitel, Die Verdammten, bis hin zur objektiven Darstellung des Umstandes, dass der Biber nicht mehr zu stoppen ist, sich aber in einer Welt zurechtfinden muss, die sich nicht immer optimal mit jener des Menschen verträgt. Der Film polarisiert nicht, vielmehr versucht er, die Lebensweise des Bibers zu erklären und was der Mensch beitragen kann und muss, damit eine Koexistenz langfristig möglich ist.

12. Mai 2013

Pas normale

Ist es zu fassen? Da nimmst du dir eine Auszeit von 31 Tagen, willst dich erholen, dieses und jenes erledigen, unternehmen, verdauen, aufarbeiten, ablegen und loslassen, aber bereits am 6. Tag wachst du morgens mit leichtem Schluckweh auf, das sich bis zum Abend zu einer schmerzhaften Angelegenheit entwickelt, die Nase zu laufen beginnt und die Glieder zu schmerzen, was dir eine halb schlaflose Nacht beschert, in der dich das Fieber heimsucht, sodass du anderntags in den verschwitzten Federn liegen bleibst, nach Erkältungstee, Papiertaschentüchern, Lutschtabletten, Inhalationstabs, Pulmex und Nasentropfen schreist, was tatsächlich alles noch im Hause vorhanden ist, denn die letzte Grippe datiert vom vergangenen Februar, dauerte geschlagene zweieinhalb Wochen, was du im erneut eingetretenen Falle mit all den Mitteln und Mittelchen zu verhindern versuchst, darauf hoffst, nicht zum Arzt gehen zu müssen, der dir dann wegen der Hartnäckigkeit des Käfers gar ein Antibiotikum verschreibt und so weiter und so fort.

Und ja, nach sechs Tagen der Bettlägerigkeit und 37 verbrauchten Päckchen Tempo fühlst du dich immer noch krank, nimmst eine Dusche, fühlst dich hernach schon etwas besser, checkst wieder einmal deine E-Mails, trinkst weiter artig Tee und isst, weil angeblich gesund, einen Apfel, siehst draussen die Welt ergrünen, fragst dich, ob du es trotz heftiger Windböen nach draussen wagen solltest, bejahst dies nach gründlicher Überlegung, packst dich gut ein, schnürst für die halbe Stunde gar die Wanderschuhe – man weiss bekanntlich nie –, nimmst auch noch die im gestrigen Blogeintrag hochgelobte neue Kamera mit und entfernst dich vom trauten Heim.

Das Tageslicht blendet dich ungewohnt stark. Es ist, als ob du sechs Tage in der Höhle zugebracht hättest. Hundert Schritte und es beginnt zu Regnen. Kapuze übers Haupt gestülpt. Zweihundert Schritte und es hört wieder auf. Kapuze vom Haupt genommen. Vierhundert Schritte wieder Regen, Wind dazu. Kapuze auf. Beim Bahnübergang angelangt, Regenstopp, schwache Sonnenstrahlen. Der Griff ans Haupt, an die Kapuze. Runter damit. Zwei Minuten später, ernsthaft grosse Tropfen. Kapuze hoch, Flucht in den Wartesaal des zum Tode geweihten Bahnhofgebäudes. Du fotografierst den ehemaligen Fahrkartenschalter. Obschon der Bahnhof seit den 1990er-Jahren nicht mehr bedient ist, ein Schild mit der Aufschrift Geschlossen, Fermé, Chiuso.



Heftiger Regen draussen. Du stellst dich unter das Vordach und fotografierst den einfahrenden Zug, siehst, wie zwei Personen aussteigen. Der Regen stellt ab und du packst die Gelegenheit beim Schopf, trittst den Heimweg an, der bereits nach einhundert Metern wieder mit Wasser benetzt wird, was dir langsam egal ist, denn mittlerweile sagt dir die zwanzigminütige Erfahrung, dass es in ein bis zwei Minuten vorüber sein wird. Doch keine Erfahrung ist endgültig, du gehst nun zehn Minuten in heftigem Regen über die Ebene und der Hanglehne entlang, begleitet von starken Windstössen. Du spürst, wie die Sturzbäche von deiner Goretex-Jacke abperlen, um anderswo jenen Schaden anzurichten, den sie erfolgreich verhindert hat: auf deiner ungeschützten Baumwollhose, die sich vollsaugt und die darunterliegende Hose, dem Gesetz der Kapilarwirkung gehorchend, ihrerseits das Wasser genüsslich in sich aufnimmt.

Bis auf die Popohaut durchnässt langst du von deinem halbstündigen Gesundheitsspaziergang in deinem Heim an, wo du dich immer noch krank und meteorologisch mies fühlst, immerhin aber ein umwerfendes Foto hast nach Hause mitbringen können und jetzt trockene Beinkleider um deine Lenden gürtest, einen schnellen Blick nach draussen wirfst, wo du beruhigend feststellst, dass die Sonne scheint und der nächste Regenguss selbst nach einer guten Stunde immer noch auf sich warten lässt.

Nein, so etwas ist nicht normal.

11. Mai 2013

Ein kleiner analog-digitaler Spaziergang

Aus den Anfangstagen meiner bescheidenen Fotografenlaufbahn besitze ich ein kleines technisches Wunderwerk. Es handelt sich um die Retina IIc von Kodak. Die Kamera wurde von 1954–1957 in einer Stückzahl von 136'000 Exemplaren in Deutschland hergestellt und brillierte in der Standardausführung mit einem 50 mm Objektiv (f/2.8) des Glasveredlers Schneider (Kreuznach). Die IIc war für damalige Verhältnisse eine äusserst handliche Knipse mit einem sehr guten Preis-/Leistungsverhältnis und tollen technischen Raffinessen wie etwa der mechanischen Verkupplung von Blende und Verschlusszeit, was dem heutigen Program-Shift entspricht. Auch die industrielle Verarbeitung liess kaum Wünsche offen. Noch heute funktionieren die massiven Bauteile einwandfrei, sodass das Bijou selbst 55 Jahre nach seiner Herstellung benutzt werden könnte, hätte in der Zwischenzeit das Digitale nicht Einzug gehalten.

Zwischen der Retina IIc von Kodak ...


... und der X100S von Fujifilm liegen 55 Jahre Fotokamera-Technologie.


Dies ist meine neuste Anschaffung. Was auf den ersten Blick wie ein Schnäppchen aus der verstaubten Ecke eines Trödlerladens aussieht, ist in Tat und Wahrheit der neuste Stand der digitalen Kompaktkameratechnologie. Rein optisch hat sich – in der Frontansicht zumindest – nicht viel verändert, was für die Designer der damaligen Zeit spricht. Ganz im Gegensatz zu den ersten digitalen Kameras, die vor gut 15 Jahren auf den Markt gelangten … Die hier abgebildete X100S des japanischen Herstellers Fujifilm übertrifft – mit marginalen Abstrichen im Handling – in vielerlei Hinsicht das bislang auf dem gehobenen Amateur-Fotomarkt Angebotene. Doch davon später mehr.

Die spartanische Rückseite der Retina IIc mit dem damals vielgelobten «grossen, hellen» Sucher.

Der Rücken der X100S ist etwas für Knopf-Fetischisten und High-Tech-Freaks.


Beim Betrachten der Kamerarücken zeigt sich die Evolution von ihrer ungeschminkten Seite. Das x-fache Mehr an Möglichkeiten schlägt sich bei der digitalen Maschine in Form von Tasten, Kippschaltern und Drehrädchen nieder.

Was aber macht die Fujifilm X100S – Nachfolgerin der X100 – so einzigartig? Abgesehen vom stimmigen Retro-Design ist es die geglückte Verquickung von mechanischer Bedienbarkeit und optisch-digitaler Technologie. Von der fest verbauten 23 mm Linse (35 mm KB-Äquivalent) mit f/2.0 und qualitativ hochstehender Vergütung bis zum sensationellen Hybridsucher bietet die Kamera unzählige Möglichkeiten, welche dank ergonomisch gestalteten Menüs schnell und einfach anzuwählen sind. Sowohl Blendenvorwahl als auch Verschlusszeitenvorwahl werden über den Blendenring bzw. das Verschlusszeitendrehrad manuell eingestellt. Wie zu analogen Zeiten eben. Selbstverständlich kann auch vollautomatisch fotografiert werden. Eine echte Invention ist der bereits erwähnte Hybridsucher. Dieser ist nicht nur wirklich gross und hell, er lässt auch zwei verschiedene Betrachtungsmodi zu: rein optisch und digital. Ein Sensor sorgt zudem dafür, dass sich beim Annähern des Auges der Monitor automatisch abschaltet bzw. wieder einschaltet, wenn sich das Auge vom Okular entfernt.

Eine weitere Funktion, die es mir nach ein paar wenigen Versuchen angetan hat, ist die Aufnahme von Panoramabildern. Die Kamera bietet hierfür zwei verschiene Winkel – 120° und 180°. Für die Erstellung eines Panoramas muss die Kamera lediglich in einer nicht zu unterschreitenden Geschwindigkeit in die gewünschte Richtung geschwenkt werden. Das nahtlose Zusammensetzen der automatisch aufgenommenen Bilder besorgt die kamerainterne Software von selber und dies in sensationeller Geschwindigkeit und Qualität. Das schaffte bislang nicht einmal Adobe Photoshop.

Die X100S verfügt über einen 16 Megapixel APS-C X-Trans CMOS II Sensor mit einer etwas anders als üblich gestalteten Farbfilter-Anordnung. Nicht das klassische Bayer-Muster, sondern Fujifilms X-Trans-Sensor der zweiten Generation gelangte zur Anwendung, welcher, ohne in die Details gehen zu wollen, eindeutig der verbesserten Farbwiedergabe dient. Positiv überrascht bin ich von den geringen 16 MP-Dateigrössen. Diese entsprechen etwa jenen meiner 10 MP-Kamera Lumix LX5 von Panasonic.

Blick von oben mit den klassischen Bedienelementen für Blende, Verschlusszeit und Belichtungskorrektur. Der Kipphebel rechts des Objektivs dient zum Ein-/Ausschalten des digitalen Suchers. Der Druckauslöseknopf verfügt über ein Gewinde für Auslösekabel. Auf die unscheinbaren Fn-Taste lässt ich eine benutzerdefinierte Menüfunktion programmieren.


Als letztes Feature erwähne ich den für mich ebenfalls neuen, künstlichen Horizont. In Zusammenarbeit mit dem Gitterraster erleichtert diese Einblendung die Aufnahme von Gebäuden, ebenen Landschaften oder Seeufern enorm und reduziert das Nachbearbeiten am PC auf ein Minimum.

Als weniger erfreulich müssen aus meiner Sicht drei Dinge erwähnt werden. 1. Das in der Regel äusserst praktische Drehrad für die Ansteuerung verschiedenster Funktionen verfügt über keinen Einrastmechanismus. Dies führt dazu, dass nur unpräzise manövriert werden kann. 2. Der ebenfalls in schönem Retrostil gefertigte Objektivdeckel aus Aluminium wird lose geliefert. Ein kleines Schnürchen mit Befestigung am Objektiv oder sonstwo an der Kamerafront würde dem vorprogrammierten Verlust des Deckels effizient entgegen treten. 3. Das Objektiv verfügt über kein Sonnenblendengewinde. Wer eine Sonnenblende haben möchte, erhält dies nur durch den überteuerten Kauf von entsprechendem Zubehör. Eine Kamera dieser Qualitätsklasse hätte dieses Spielchen eigenlich nicht nötig.

Fazit: Die Fujifilm X100S ist für meine Begriffe das Beste, was der Kompaktkameramarkt derzeit zu bieten hat. Die Kamera eignet sich dank der Brennweite hervorragend als Reportage- und/oder Reisekamera. Sowohl Preis-/Leistungs- als auch Gewichts-/Grösse-/Robustheitsverhältnis stimmen für meine Begriffe. Bedienkomfort und Bildqualität sprechen für sich.

9. Mai 2013

Mehr davon, Dennis!

Liebe Sündenkinder,
nun ist es endlich da: Mein zweites Machwerk. Anfang des Jahres habe ich mich ausgeklinkt und bin 1637 Kilometer gelaufen, um endlich meine Sünden zu büßen. Drei Monate zu Fuß von Hamburg über meine Heimat Osnabrück durch das Elsaß, die Schweiz über die Alpen bis nach Canossa. Ich habe mir von einem Orakel die Zukunft vorhersagen lassen, den Fluch meines Ur-Großvaters Heinrich besiegt, geistheilende Fleischereifachverkäuferinnen und die Jeanne d’Arc der Silikomimplantate kennengelernt, in Barschels Genfer Badewanne geplanscht, den Zeugen Jehovas einen Hausbesuch abgestattet und das erste Mal in meinem Leben gebeichtet. Warum ich nach Canossa gegangen bin? Weil die Wulffs und Guttenbergs dieser Welt es nicht tun …

Dennis Gastmann: Gang nach Canossa
Rowohlt, Berlin, 2012, 318 Seiten

Mit diesen Worten warb am 10. November 2012 der deutsche Journalist Dennis Gastmann auf seiner Website für das soeben erschienene Buch Gang nach Canossa. Soeben bin ich mit der Lektüre fertig geworden und selten habe ich mich mit einer Wanderreportage derart heftig amüsiert! Der Autor verfügt nicht nur über den Blick für das Aussergewöhnliche, Skurrile und Absurde, er weiss das Gesehene und Erlebte auch gekonnt in Textform wiederzugeben. Nicht selten schwingen dabei Ironie und auch ein bisschen Zynismus mit, doch Gastmann versteht es, die Grenzen des Zumutbaren nicht zu übertreten. An einer Stelle bezeichnet sich der Norddeutsche selber als Satiriker. Das trifft den Nagel auf den Kopf. Ich bin der Meinung, es sollte im deutschsprachigen Raum mehr Dennis Gastmanns geben; die Reiseliteraturszene würde im positiven Sinne aufgemischt. Hier ein Beispiel, es liest sich auf Seite 69 und spielt in der Touristeninformation in Brilon, am Beginn des Rothaarsteigs im Sauerland :

Sie drückt mir eine Karte und einen Prospekt in die Hand: «110 Qualitätsbetriebe zum Einkehren und Übernachten». Die meisten seien jedoch noch geschlossen. Ausserdem bekomme ich ein hübsches Werbegeschenk: «Mörderisches vom Rothaarsteig». Eine Sammlung von Krimigeschichten, in denen die Autoren ganz unauffällige die «fabelhafte Küche» der Gasthöfe und die «ausgezeichnete Beschilderung» der Pfade loben. Ansonsten liest man, wie die Wanderer auf dem Rothaarsteig erschlagen, erstochen, erschossen, zerstückelt und verscharrt werden. Ob so etwas Touristen anspricht?

Gastmanns Chuzpe und journalistische Ader sind es, die dem Leser eine Welt vor Augen führen, die wir oft als normal hinnehmen. Bei genauerer Betrachtung und Hinterfragung tritt indes eine Welt zu tage, die sich nicht selten in Widersprüchen verstrickt, wie etwa in jener Szene, wo Gastmann in Frankfurt auf einen Mann trifft, der Geld für das Ende des Geldsystems sammelt. Gang nach Canossa ist denn auch ein Sammelsurium an soziologischen Kleinststudien. Und das Schöne daran: Gastmann ist selber Teil davon. Daher: mehr davon, Dennis!