29. Mai 2017

Oberwalliser Quickie

Mörel (VS).

Sonntagmorgen. Im ersten Zug nach Thun, weiter durch den Lötschbergtunnel nach Brig und schliesslich mit der Matterhorn-Gotthard-Bahn bis Mörel. Um fünf nach halb acht trabe ich los, steige den alten Fussweg nach Ried-Mörel hoch und werde zunehmend glücklich. Im Bergdorf stosse ich auf eine Freiluftbibliothek, die mich einlädt, ein Buch zu nehmen, zu behalten, zu tauschen oder zu verschenken. Ich bin frech und nehme gleich zwei. Kindergeschichten* von Peter Bichsel und Hesses Siddharta, eine Ausgabe der Büchergilde Gutenberg von 1922, gesetzt in Frakturschrift. Die zwei Funde passen prima, habe ich doch zu Hause ein Büchlein eingepackt, das ich bereits gelesen hatte, wie ich auf der Hinfahrt feststellen musste. Nun bin ich also auch schon soweit …

Aufstieg von Mörel nach Ried-Mörel.

Die Freiluftbibliothek in Ried-Mörel.


Das Glück dauert an. Zur rechten Zeit ein Brunnen mit Trinkwasser und hernach ein traumhafter Pfad entlang einer Suone durch Magerwiesen. Ich folge dem Bewässerungskanal vom Weiler mit dem sonderbaren Namen Summerseili bis zur Abzweigung, wo der legendäre Massaweg beginnt. Weil ich ihn vor Jahren gegangen bin, steige ich hier ab. Ein formidabler Bergweg, steil, vor Augen der Häuserhaufen von Naters und Brig, überragt von schneefleckigen Bergriesen, die den brachialen Reiz der Oberwalliser Metropole ausmachen.

Wallis, wie ich es liebe: Suonenweg bei der Roti Flue.

Auf dem Abstieg nach Bitsch mit Naters und Brig, darüber das Glishorn. Rechts ein Bildstock.


Begleitet von sprudelnden Schmelzwassern, erreiche ich in Bitsch die Talsohle, überquere den Rotten und strebe brigwärts. Willkommene Schattenlage des Pfades entlang der Bahngeleise. Plötzlich stehe ich über den zwei Portalen des Simplontunnels. Und wenig später schräg davor. Eine schwarze Güterlokomotive pfeilt aus der Röhre, im Schlepptau unzählige Kesselwagen. Was folgt ist ein vergleichsweise skurriler Hatscher durch öde Bahnlandschaft, vorbei an Zollfreilager, Fitnesszentrum und dem Dreiviertelrund des Lokomotivdepots. Schlag elf Uhr laufe ich im Briger Bahnhof ein. In zwanzig Minuten fährt mein Zug durch den Alpenhauptkamm. Um viertel vor eins bin ich wieder zu Hause. Fazit: dieser Oberwalliser Quickie hat Wiederholungspotenzial.

Bahnhofplatz in Brig.


*Auf der Heimfahrt lese ich die erste Geschichte. Sie handelt von einem Mann, der auf einer geraden Linie um die Welt gehen wollte, um genau dort anzukommen, wo er gestartet war. Mit einem Schlag fühlte ich mich ins Jahr 1974 versetzt. Damals las ich diesen Text zum ersten Mal. Als Viertklässler, im Schullesebuch. Und Bichsels Geschichte hat bis heute nichts an Aktualität eingebüsst.

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