30. September 2017

Zu Fuss durch Amerika

Wolfgang Büscher: Hartland, Rowohlt,
Berlin, 2011
Zu Fuss in das Herz Amerikas, drei Monate lang, 3500 Kilometer von Nord nach Süd: Wolfgang Büscher hat das Abenteuer gewagt. Er lässt sich durch die schneebedeckte Prärie Norddakotas treiben, entdeckt den verlassenen Ort Hartland, der einst Heartland hiess, und freundet sich in den Great Plains mit einem rätselhaften indianischen Cowboy an. Dann folgt er der Route 77 vom Missouri bis zum Rio Grande. Bob Dylan nannte diese historische Strasse einmal das eigentliche Herz Amerikas, ihr entlang lasse sich der Geist des Landes einfangen. In Kansas muss Büscher mit gespreizten Armen und Beinen am Wagen des Sheriffs stehen, auf offener Landstrasse, er schläft in gespenstischen Motels und viktorianischen Herrenhäusern und flieht aus einem Nachtasyl. Dann Texas. Ranches, gross wie kleine Staaten, die Hitze des Südens. Bei Waco, wo einst die bewaffnete Davidianer-Sekte wochenlang vom FBI belagert wurde, trifft er den heutigen Sektenchef – der Wahn lebt. Büscher lässt sich weitertreiben, immer weiter nach Süden, durch die Desierto de los Muertos, bis er schliesslich über den Rio Bravo nach Mexiko verschwindet ...
Ein einzigartiges Reiseabenteuer – geschrieben von einem Autor, dessen Bücher, so der «Spiegel», «zum Besten gehören, was in den letzten Jahren in deutscher Sprache erschienen ist». (Klappentext)


Nach «Berlin – Moskau» trumpft Büscher mit einem Reisebericht auf, der den Leser von der ersten Seite an nicht mehr los lässt.

16. September 2017

Othmar-Schoeck-Weg


Drei Schweizer Städte haben Strassen nach Othmar Schoeck benannt. Die Prominenteste ist die Schoeckstrasse in Zürich. Sie liegt direkt am Sechseläutenplatz, mit Blick auf das Opernhaus, wo Schoeck-Opern uraufgeführt worden sind. Diese Strasse ist weniger als hundert Meter lang und sehr stark befahren, ist aber keine Wohnadresse. Die Zürcher Schoeckstrasse taucht also weder im Telefonverzeichnis noch auf Briefadressen auf. Anders die Schoeckstrasse in St. Gallen. Sie erschliesst nahe dem Wildpark Peter und Paul ein Wohnquartier mit Einfamilienhäusern und umfasst immerhin 49 Adressen. Der Othmar-Schoeck-Weg in Thun beginnt unmittelbar beim Bahnhof und der Schiffstation, führt idyllisch dem Wasser entlang und weist vier Wohnadressen auf.

15. September 2017

Fotografieren mit Ansel Adams

Ansel Adams: Meisterphotos, Christian Verlag,
München, 1984, vergriffen.
Die Lektüre des vorliegenden Text-Bildbandes ist in Zeiten der digitalen Fotografie eine wahre Wohltat! Der weltberühmte Ansel Adams (1902–1984) erzählt einfühlsam, wie die hier präsentierten 40 Meisterfotos entstanden sind. Beeindruckend mit welcher Ausrüstung Adams jeweils unterwegs war und wie wenig Bilder er jeweils schiessen konnte. In den Anfängen hatte er nicht einmal einen Belichtungsmesser zur Verfügung! Der Kontrast zu dem Einst und Jetzt könnte nicht grösser sein. Dies macht das Buch umso lesenswerter. Unbewusst holt Adams dabei die omnipräsent gewordene Fotografiererei auf den Boden der Realität zurück und verdeutlicht, was wirkliche Fotografie eigentlich darstellt. Jedes Bild wird mit Bedacht komponiert und der Film mit viel Erfahrung und Fachwissen belichtet.

Nun, ich wäre vermutlich einer der Letzten, der mit einer Ausrüstung à la Adams – diese war mitunter so schwer, dass er sie auf Maultiere lud, um in die entlegenen Winkel Kaliforniens zu gelangen – auf Motivjagd ginge. Dennoch haben mir die Erläuterungen des Meisterfotografen neue Impulse und Ideen geliefert, wie ich inskünftig meine Bilder in den Kasten befördere. Eines möchte ich indes nicht mehr missen: die Möglichkeiten der digitalen Bildbearbeitung. Adams entwickelte nicht nur die belichteten Filme selber, er vergrösserte sie hernach im eigenen Labor auf Fotopapier. Eine Arbeit, die ich auch aus eigener Erfahrung kenne. Hier bietet uns die digitale Bildbearbeitung einiges mehr und kommt zudem ohne umweltschädliche Chemikalien aus. Meiner Meinung nach ein gewichtiger Fortschritt in der Geschichte der Fotografie.

Und noch etwas, das mich Adams' Werk lehrt: Die Schwarz-Weiss-Fotografie hat in dieser ach so bunten Welt nach wie vor ihre Daseinsberechtigung. Auf geht's!

13. September 2017

Bis ans Ende der Welt

René Freund: Bis ans Ende der
Welt,
Picus Verlag, Wien, 1999
Herbe Landschaften und liebliche Gegenden, karge, weite Landstriche ohne Brunnen, ohne Dorf, dann wieder pittoreske Orte, hin zu den tückischen Pyrenäen – 1500 Kilometer lang ist der Fussweg von Mittelfrankreich nach Santiago de Compostela, der mythische Jakobsweg oder Camino de Santiago. Es sind zwei Monate Fussmarsch, an dessen Ende der Wanderer oder Pilger noch einmal auf eine harte Probe gestellt wird in der ungastlichen Meseta. Diese Wanderung, die René Freund in einem sehr persönlichen Tagebuch nachzeichnet, bedeutet emotionale Wechselbäder von euphorischem Glücksgefühl über die Faszination der Landschaft und das Hinauswachsen über die eigenen Kräfte bis hin zur Wut über den eigenen «Masochismus» und zu physischen wie psychischen Krisen. René Freunds Perspektive vereint wohldosiert die Objektivität des aufmerksamen Beobachters mit der Begeisterung des jeden Tag neu Aufbrechenden, das Feingefühl des Naturliebhabers mit teils ironisch gebrochener sachlicher Darstellung. So macht er Leserinnen und Leser zu Begleitern und lässt sie die Ängste, Nöte und Freuden der modernen Pilger miterleben. [Klappentext]

8. September 2017

Pappelweg



Der Pappelweg in Thun ist als eine der wenigen Strassen mit einem alten und einem neuen Schild bestückt.


7. September 2017

Altes aus Absurdistan

Heidi Gassner: Kann denn Liebe Sünde
sein, Licorne, Murten, 1998
Zwanzig Jahre lebte die Künstlerin Heidi Gassner eine heimliche Liebesbeziehung zu einem katholischen Pater, der als Jesuit durch seine Öffentlichkeitsarbeit (u.a. «Wort zum Sonntag» im Schweizer Fernsehen) und Bücher auch über die Landesgrenzen hinaus bekannt war. Das priesterliche Gelübde der Ehelosigkeit zwang beide zu einem Doppelleben, dessen Zwiespältigkeit und Lügengebilde zu einem schmerzlichen Eklat führten. Die zwei Kinder aus erster Ehe gaben Heidi Gassner den erforderlichen Durchhaltewillen, doch bedurfte auch deren Weg viel Kraft und Mut. Auch aus ihren künstlerischen Arbeiten gewann sie immer wieder die notwendige Energie, um trotz allem die so unterschiedlichen Anforderungen des Alltags zu meistern. Wie es beiden schliesslich gelang, ihr Leben in Einklang zu bringen mit den eigenen Wünschen und Vorstellungen von Gemeinsamkeit und Eheleben, zeichnet der Bericht der Autorin in einer Sprache auf, die jenseits aller Larmoyanz und von überraschendem Humor ist. (Klappentext

Und wieder einmal bin ich über das Gebaren der katholischen Kirche erstaunt. Was Heidi Gassner erlebt hat, verdeutlicht die sektiererisch anmutende, Menschen verachtende Grundhaltung einer Organisation, die im Namen des Herrn ihr Unwesen treibt. Gassners Buch ist vor knapp 20 Jahren erschienen und mir scheint, es habe sich in dieser Kirche hinsichtlich Zölibat und Patriarchat seither nichts Berauschendes getan.

Website von Heidi Gassner: www.gassner.ch

1. September 2017

Als das Auto noch eine Randerscheinung war

Otto Julius Bierbaum: Eine empfindsame
Reise im Automobil, Rütten & Loening,
Berlin, 1992. Vergriffen.
Otto Julius Bierbaum liebte Hunde, Katzen und Blumen, Horaz und Goetze, Mozart und Dürer, seine junge Frau und – Autoreisen. Im Frühling des Jahres 1902 erfüllt er sich einen Traum: Vertrauend auf acht Pferdestärken, einen Zylinder und den Schauffeur, bricht das Ehepaar Bierbaum mit einem geliehenen roten Cabrio der Marke Adler im Viertaktrhythmus zu einer gut dreimonatigen Hochzeitsreise auf.
Die dreiköpfige Reisegesellschaft in ihrem mit einem 8-PS-Motor bestückten Adler von 1901.


Am 10. April fahren sie von Berlin «durchs Tempelhofer Feld hinaus» bis Sachsen, dann via Dresden, Prag, Wien, München über die alte Brennerstrasse nach Italien. «Evviva benzina!», begrüssen die Einheimischen begeistert das ungewohnte Gefährt, aber auch Fluch und böser Blick folgen der «Teufelsmaschine». Glatte Strassen wechseln mit «pneumatikmörderischen Wegen», vor Rimini haben die Autopioniere ihre erste Panne, und sie atmen jedes Mal erleichtert auf, wenn ihr Benzin bis zur nächsten Apotheke reicht. Tankstellen waren zur damaligen Zeit praktisch inexistent.

Die Bierbaums sind bedrückt vom «nur noch melancholischen Glanz» Venedigs, sehen ergriffen von San Marino aus das Meer und den Apennin gleichzeitig, brauchen für die 96 km zwischen Faenza und Florenz zehn Stunden, klopfen – «überwältigt» von der Toskana – an die Pforte des Franz von Assisi und erliegen in Rom bei 35° Réaumur fast einem Hitzeschlag. Durch die «grandiose Öde» der Campagna gelangen sie nach Neapel, konstatieren dort enttäuscht, dass der Vesuv «weder spuckt noch raucht», laufen durch die tote Stadt Pompeji, stehen vor dem «bedenklich schiefen» Turm von Pisa und bezwingen auf ihrem Rückweg wohlbehalten die 2111 Meter des Sankt Gotthard, als eines der ersten Automobile überhaupt!


1902 überquerten die Bierbaums als eine der ersten Autofahrer den Gotthardpass.

«Reisen, ohne zu rasen» war die glückliche Devise ihrer Fahrt; ihr Fazit lautete: Das Reisen im Automobil ist das ideale Reisen! – Wie sich die Zeiten doch geändert haben …


Otto Julius Bierbaum wurde am 28. Juni 1865 in Grünberg in Niederschlesien als Sohn einer Gastwirts- und Konditorsfamilie geboren. Nach der Schulzeit am Leipziger Thomasgymnasium studierte er Jura und Philosophie in Zürich, Leipzig, München und Berlin. 1887 zog er nach München mit dem Ziel, als Schriftsteller und Journalist ein Auskommen zu finden. Zunächst wohnte er zur Untermiete in der Schwabinger Kaulbachstrasse und verdiente sein Geld mit Feuilletons und Rezensionen.

Als rühriger Literat und Herausgeber wurde Bierbaum zu einem wichtigen Vertreter der Münchner Moderne. Als 1896 die satirische Zeitschrift Simplicissmus erschien, gehörte Bierbaum zu den ersten Mitarbeitern. Nach der Hochzeit mit der Diessener Lehrerstochter Gusti Rathgeber lebte er für einige Jahre in Berlin, dann auf Schloss Englar bei Eppan in Südtirol. 1900 kehrte er zurück nach München, wo ein grosser Teil seiner Werke entstand. Zusammen mit Otto Falckenberg und Frank Wedekind wirkte Bierbaum 1901 an der ersten «Exekution» des Münchner Kabaretts «Die Elf Scharfrichter» mit. Sein 1897 erschienener autobiografischer Roman «Stilpe – Ein Roman aus der Froschperspektive» lieferte die Vorlage für die Kunstform des modernen literarischen Varietés, u.a. soll er Ernst von Wolzogen zur Gründung seines Berliner «Überbrettl» inspiriert haben. Bierbaum verfasste Liedtexte und Chansons und galt als meisterhafter Lyriker. 1901 erschien seine Gedichtsammlung «Irrgarten der Liebe». Die erste Auflage von 5000 Stück war innerhalb von wenigen Wochen vergriffen. 1906 erweiterte Bierbaum die Sammlung und veröffentlichte sie unter dem Titel «Der neubestellte Irrgarten der Liebe».

Schön geprägter Pappdeckel von Bierbaums
Neuauflage der «empfindsamen Reise im
Automobil»
Bei seinen Publikationen widmete sich Bierbaum intensiv den Fragen der Buchausstattung und Typographie. Zusammen mit Rudolf Alexander Schröder und Alfred Walter Heymel gründete er 1899 die monatlich erscheinende Kunstzeitschrift «Die Insel», eine der wegweisenden deutschen Zeitschriften der literarischen Moderne, aus der später der Insel Verlag hervorging. Seinen Mitbegründern setzte er mit dem Schlüsselroman «Prinz Kuckuck. Leben, Taten, Meinungen und Höllenfahrt eines Wollüstlings» (in drei Bänden von 1906–1908) ein nicht sehr schmeichelhaftes Denkmal. Bierbaum stellte Heymel als reichen, charakterlosen und selbstverliebten Snob dar, der sich aus purer Eitelkeit als Kunstmäzen profiliert. Der Roman erregte grosses Aufsehen und fürhte zu Anfeindungen und Prozessen.

1901 heiratete Otto Julius Bierbaum seine zweite Frau, die Florentinerin Gemma Prunetti Lotti. Zusammen reisten sie im Automobil durch Europa, vor allem nach Italien. Von seiner Begeisterung für Autoreisen erzählen die Bücher «Eine empfindsame Reise im Automobil (1903)» und «Das höllische Automobil» (1905). 1906 bezog das Ehepaar Bierbaum eine Villa in München-Pasing. Im darauf folgenden Jahr zogen sie nach Dresden.

Der Reisebericht Yankeedoodlefahrt (1909) wurde Bierbaums letztes Buch. Er starb nach langer Krankheit am 1. Februar 1910 in Dresden. Die Urne mit seiner Asche wurde nach München überführt und auf dem Waldfriedhof beigesetzt. Kurz nach seinem Tod erschien im Münchner Georg Müller Verlag eine Neuauflage seines Romans «Das schöne Mädchen von Pao» (1899) in einer nach Bierbaums Anweisungen sorgfältig gestalteten bibliophilen Prachtausgabe.