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Thomas Widmer, Zu Fuss –
Die verschwundene Seilbahn, Echtzeit
Verlag, Basel, 2010 |
Das Konzept ist dasselbe, die Haptik auch und die Optik erst recht. Lange zwei Jahre haben die Schäfchen der Widmer’schen Diaspora auf den dritten Band der Silbertablettversion seiner Wanderkolumnen aus Tages-Anzeiger und Berner Bund warten müssen. Doch das Warten hat sich, soviel sei schon mal verraten, alleweil gelohnt.
«Die verschwundene Seilbahn» nennt sich mystisch das die Trilogie der Zu-Fuss-Wanderbücher vervollständigende Werk des in Zürich wohnhaften und mit Appenzell-Ausserrhoder Wurzeln und dem damit unzertrennlich verbundenen Schalk ausgestatteten Thomas Widmer. Die Lösung des Titelrätsels offenbart sich, im Nachhinein betrachtet, bereits auf Seite 33. Als Leser ist man auf den verbleibenden 88 Textseiten dennoch versucht, herauszufinden, ob sich nicht doch mehr hinter dem romanhaft anmutenden Titel verbirgt. Fehlanzeige, oder aber, dem aufmerksamen Rezensenten ist etwas Entscheidendes durch die Lappen gegangen. Herr Widmer: «Bitte helfen Sie mir und Ihrer Diaspora auf die Sprünge!»
Trotz der wohltuend einheitlichen Aufmachung von «Zu Fuss» Nummer drei – der fotografische Vor- und Nachspann sowie die unschätzbar wertvollen Kartenausschnitte
im Massstab 1:50 000 fehlen also auch diesmal nicht –, sind dennoch Unterschiede zu den zwei vorangegangenen Bänden zu bemerken:
- Die gleichbleibende Anzahl Wanderungen – pro Kalenderwoche eine, ergo52 – hat dennoch ein dickeres Volumen zur Folge. Der Grund liegt in der Kolumnenlänge.Widmer muss, im Gegensatz zu seinem früheren Arbeitgeber,der Weltwoche, mehr Text abliefern. Andere Zeitung, andere Bräuche.
- Widmer ist bissiger, aufmüpfiger, will sagen, kritischer geworden. Kein Blatt vor den Mund nimmt er beispielsweise, wenn er sich über «grausige DJ-Ötzi-Musik» mitten im Skigebiet von Sörenberg mokiert; beim Anblick von«Modern-Überbauungen» auf der Fahrt von Stans hinauf nach Emmetten in eine «Spontandepression» verfällt; von einer «pampigen Serviererin» spricht, wenn die Bedienung den gastgewerblichen Gepflogenheiten nicht nachkommt, sprich: schlecht gelaunt ihres Amtes waltet; oder, angesichts der übermässigen Dichte von Töfffahrern und Autotouristen beim Hotel «Chasseral»auf eben diesem Berg, den Vergleich «das ist ein Irrenhaus (mit Selbstbedienung)» bemüht.
Damit kein falscher Eindruck entsteht, der Autor ist durch und durch ein positiv denkender Mensch, ein Sprachjongleur, ein Adjektiv-Fantast, dem einmal mehr ein «Page turner» nach dem Motto: «In zwei Stunden von der Wanderung 1 zur Wanderung 52» gelungen ist. Widmer lesen ist wie Salznüsse essen. Einmal angefangen, kann man nicht mehr aufhören. Dabei spielt es keine Rolle, ob der Leser mit Wandern etwas am Hut hat oder nicht. Dies ist genau der Anspruch an eine Kolumne: Sie soll mich fesseln, auch wenn mich das Thema nicht interessiert. Das verlangt nach Beispielen.
Wanderung 16 führt vom Bahnhof Näfels-Mollis nach Mühlehorn: «Mollis ist ein mit Neuzeit-Allerweltsbauten gut getarntes Freiluftmuseum des Ancien Régime.» Den Jura definiert Widmer als «wirksam die Seele beruhigende Gegenwelt zum Mittelland-Alltag» und die Apfelwähe des Eigenthalerhofs im gleichnamigen Tal als «mit äusserster Liebe und Kompetenz zubereitet … schliesslich der Nussguss: süssfeuchte Poesie, ein Kuss in essbarer Form». So und ähnlich folgen sich sprachlich-philosophische Miniaturen Zeile für Zeile und, das ist das Gefährliche, lenken ab vom eigentlichen Sinn des Produktes: Auf dass man die Schuhe schnüre und loswandere.
Widmers Drittling führt wiederum in beinahe alle Gegenden der Schweiz, Schwergewicht Deutschschweiz und rätoromanische Kolonien. Vom 90-minütigen Spaziergang im Solothurn-Bernischen Bucheggberg bis zu den 7½-Stündern über den Restipass im Wallis oder den Passo di Redorta im Tessin ist für alle Praktiker des Schrittelns zu jeder Jahreszeit etwas vorhanden. Ob anspruchsvolle Geröllhalden zwischen Muotathal und Klausenpass oder das «schmale, endlos lange» Val Roseg, wo unser Kolumnist «in eine Art mobiles Koma, typisch für die Kategorie des vegetativen Gehens, bei dem man nicht denken muss», verfiel: Keiner zu klein, ein Jünger Widmers zu sein.
Wir bilanzieren: Thomas Widmers Wanderbücher haben den Charakter von Schweizer Taschenmessern: Ein genial konstruiertes Qualitätsprodukt mit einer Unzahl an Möglichkeiten der Anwendung. Zwar fehlt das legendäre Schweizerkreuz auf dem Umschlag, wer diesen indes aufklappt entdeckt die wahre Grösse. Als Schreibe für den Tagesgebrauch konzipiert, wird die Buch- die Zeitungsform um Dekaden überdauern und dereinst als wertvolle, zeitgenössische Darstellung der helvetischen Fussreiseszene zu Beginn des 21. Jahrhunderts dienen. Und sei es bloss, um weitere verschwundene Seilbahnen ans Tageslicht zu befördern.
Genug gewidmert jetzt, gewandert wird!